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Von  //  3. Januar 2011  //  Tagged:  //  Keine Kommentare

In einer Moskauer Bar treffen nachts drei fremde Menschen aufeinander. Alle geben vor, jemand anderes zu sein, als sie tatsächlich sind: Der skrupellose Fleisch-Großhändler gibt sich für einen Mitarbeiter des Präsidenten aus, die Hure als ein Werbe-Model von neuen japanischen Erfindungen, und der Klavierstimmer für einen Genetiker, der den anderen von den seit 50 Jahren in Rußland lebenden Klonen berichtet. Er erzählt die längste Geschichte, u.a. auch von den abgelegenen Dörfern, die eigens für die vereinzelt mißlungenen Experimente erschaffen wurden. Am nächsten Tag erfährt die Frau vom Tode ihrer Schwester und reist zurück in ihr Heimatdorf, in dem fast nur noch alte Frauen wohnen.

Im zweiten Teil verliert der Film leider etwas vom Tempo und Abwechslungsreichtum der ersten Hälfte, er bleibt aber eine intensive Erfahrung. Es tut gut, mal wieder eine ungewöhnliche, unverbrauchte Art des Filmemachens begutachten zu können. Das verantwortliche Team schert sich einen Dreck um Konventionen und will möglichst brachial und dreckig herüberkommen. Das gelingt, ohne daß es bemüht oder gewollt künstlich erscheint, die Dialoge, die Kameraführung und der tolle Industrial-Score ergänzen sich hervorragend und ergeben ein einheitliches Bild. Überhaupt ist die Ton-Mischung exzellent und gäbe auch komplett ein gutes Album ab. Die Straßenhund-Metaphern erinnern an Bulgakow. Ansonsten entgeht mir als Nicht-Russen aber wohl einiges an Anspielungen und Bedeutungen. (In Rußland ist der Film von der Kritik scheinbar nicht besonders gut aufgenommen worden, aber das könnte wohl auch an den Problemen mit der Pressefreiheit liegen, die dort scheinbar immer noch/schon wieder auftreten.) Und man sieht mal wieder, was für einen Vorteil es bringt, wenn ein richtiger Schriftsteller für das Drehbuch verantwortlich ist, noch dazu einer, der hochgradig eigenständige und originelle Ideen hat. Vladimir Sorokins Humor ist zwar auch hier und da auszumachen (vor allem im Running Gag mit den runden Ferkeln), einen lustigen Film würde das aber sicher niemand nennen.

Trotz der Originalität des Drehbuchs fand ich aber die Dialogfreien Sequenzen besonders stark: Meist sieht man einen der drei Protagonisten in Bewegung. Vor allem Marinas Reise ins Dorf ist fabelhaft: Im Zug sitzt sie in einem Abteil mit einer Familie, die unentwegt frißt – ganze Fische, Eier und anderen wohlriechenden Kram – man kann sich vorstellen, wie man sich fühlt, wenn man mit einem Kater direkt daneben sitzt. (Wobei mir aufgefallen ist, daß mit der Abschaffung von Abteilen bei der deutschen Bahn eine Menge der Intimität dieser Art des Reisens flöten geht – meistens zum Vorteil, aber irgendwie schade drum ist es schon.) Das abgelegene Dorf wird zu einer Horrorfilm-Location, ein dem Verfall preisgegebenes House of Usher hinter elektrischem Stacheldraht von Militär-Übungsplätzen. Überspitzt scheint es aber nur die katastrophale Rückständigkeit einiger Gegenden im ländlichen Rußland zu reflektieren, die nur noch mit einer großen täglichen Dosis Selbstgebrannten zu ertragen ist. Selbst die Mamutschkas feiern hier Orgien, die eine willkommene Abwechslung zum Tagesablauf (Brot kauen, um aus der Paste Puppen zu formen – die einzige Finanzquelle des gesamten Dorfes) bieten. Vielleicht wurde dem Dorf in der zweiten Hälfte des Films zu viel Raum geschenkt – ich hätte gerne noch etwas mehr von den ebenso keineswegs uninteressanten anderen beiden Protagonisten gesehen – aber übrig bleibt immer noch ein beeindruckender, origineller, kompromißloser Preßlufthammer von einem Film.

Rußland 2005, Regie: Ilja Khrjanovsky

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Über den Autor

Alex Klotz ist ein Zelluloid atmendes Wesen und betreibt den Blog hypnosemaschinen. Alex Klotz hat nie als Tellerwäscher, Aushilfsfahrer oder Kartenabreisser gearbeitet und gedenkt das auch in Zukunft nicht zu tun.

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