Filmtagebuch einer 13-Jährigen # 1

Mist, der Titel stimmt inzwischen nicht mehr richtig :-( Und manche der Filme hab ich gar nicht im November, sondern schon Ende Oktober gesehen, bei unserer geheimen Hard Sensations Filmnacht im Leerzeichen in Aachen. Einige haben wir auch in Marco Siedelmanns magischer Merksteiner Dachbodenwohnung geguckt, zusammen mit Christoph von den „Eskalierenden Träumen„, der zu Besuch da war. Helle Nächte. Astral Days.

Kreuzfahrt des Grauens / Die Todesyacht (Guido Leoni, Italien/BRD 1969)
Wohltuend unlogische, unterhaltsame Gehirnwäsche. Wenn man schon nicht trinkt, braucht man solche Filme, die helfen, dass man den Faden verliert.

Und ewig singen die Wälder (Paul May, Österreich/BRD 1959)
Oberländer Graubrot mit Wurst und Margarine. Heiße Milch mit Langnese: So schmeckt mir der Film. Ich finde ihn sehr geeignet für fieberkranke Kindheitsstimmungen unter Wolldecken im Winter; mit den Kollegen im „Leerzeichen“ war ich noch nicht so weit und tat dem Film wahrscheinlich deshalb etwas unrecht. Agfacolor macht den Teint der Schauspieler teigig und die Bauten pappig, berauscht jedoch mit einem wabernden Rotkäppchenrot, in das die böse, dunkelhaarige Gegenspielerin durchweg eindrucksvoll gekleidet ist. Beide Björndal-Söhne (Joachim Hansen, Hansjörg Felmy) sind hehre, von meinem, an dem späten Abend blasierten Ich aber als fade empfundene Leute. Ich langweilte mich zeitweilig mit dem Streifen verschämt, zu meiner Schande, und fürchtete, einzuschlafen. Also spielte ich heimlich, wen aus dem Film ich genommen hätte, wenn ich müsste. (Man darf dabei nicht „keinen“ sagen, sonst wird man erschossen.) Gert Fröbe hätte ich genommen. Ich fand es rührend und etwas erregend, wie er unbeholfen an seiner großen, von einem Bären gerissenen Narbe im Gesicht vorbei zu leben versuchte, sich nach seiner verstorbenen Frau sehnte und seine verehrungsvolle Verliebtheit in die junge Schwiegertochter nicht verbarg, obwohl er wusste, dass er keine Chance hatte. Ich legte mich nackt in seiner grobschlächtigen Holzhütte unter das Bärenfell vor den Kamin und soff aus seinem Weinkeller, wie er es mit dem Vater der hexenhaften Gegenspielerin tat, die sich später selbst verbrannte. Der alte Björndal sieht nach einer Heinrich-George-Rolle aus, vielleicht wie der Postmeister, aber das ist wirklich schon zu lange her, ich weiß nicht mehr. Fröbes Ausstrahlung ist ähnlich urig alt und knorrig, doch noch poröser, brüchiger, verfallender, so was zieht mich manchmal an. Ich finde auch den Filmtitel schön. Ich guck den später noch mal wieder, wenn Gott will.

Saturnus (Bruno Sukrow, BRD 2011)
Umwerfende Science-Fiction mit Bauchgefühl und ohne Schranken.

Die Zuckerrohr-Puppe mit der schwarzen Donnerbüchse (Anonym, 197?)
Vom Hafer gestochener Pornosex, der zum Mitmachen reizt. Sieht aus wie illegal, spontan auf die Schnelle in einer Zuckerrohrplantage gedreht, während die Kumpels Schmiere standen und legt frech den unschuldigen, ahnungslosen Darstellern unglaublich obszöne, gepfefferte Synchronsätze in den Mund. Auch der Titel ist ja schon unfassbar.

Heiße Ernte (Hans H. König, BRD 1956)
Das gemeinsame Arbeiten bei der Hopfenernte am Bodensee macht die Menschen der 50er Jahre wild. Scharen handfester Nachkriegsweiber, gestylt wie „Bitterer Reis“, strömen aus dem Bahnwaggon und werden nach altem, deutschem Brauch in Lager einquartiert. Sie sind Erntehelferinnen, und ich kann das sogar von früher bestätigen: Es hatte wirklich, hm, Pep, mit den anderen Helferinnen und Helfern, den Bauern und Lehrlingen auf dem Feld. Farblich ist dieser „Heimatfilm“ eine prächtige Obsttorte, aber sie hat auch proletarische Western-, Taiga- oder Mississippistimmung, wie in alten Schlagern, aber besser. Oh, und der brandohafte Helmut Schmid mit seinem attraktiv gierigen Gesicht als brutaler Pole „Stanislaus“: Dass die so keck und harmlos wirkende Lilo Pulver im „wirklichen“ Leben dieses Tiiier hat einfangen und heiraten wollen und können, erfüllt mit kollegialem Respekt.

Maladolescenza / Spielen wir Liebe (Pier Giuseppe Murgia, Italien/BRD 1977)
Ein etwas zerfahrener, ungewöhnlicher, manchmal achtlos und sprunghaft montierter, kindlicher Fantasyfilm mit ziemlich schönen Bildern vom Wald. Es geht um einen Feriensommer, in dem die Kinderspiele eines Jungen mit einem Mädchen in der Pubertät immer sexueller und herrschsüchtiger werden. Der Junge errichtet sein Königreich in einer Ruine im Wald und verlangt von seiner Freundin und ihrer Rivalin-um-seine-Gunst, dass sie sein Spiel spielen und seine Regeln befolgen. Von der Darstellerin Eva Ionesco weiß man, zuletzt durch ihren Film „I’m not a f** princess“, dass sie sich zu den Dreharbeiten von ihrer Mutter gedrängt fühlte. Weil die Protagonisten in der Originalfassung dabei nackt Sex simulieren, gilt dieser Film heute als Kinderporno und darf in Deutschland nur als Fassung ohne diese Sexszenen gezeigt und überhaupt besessen werden. Uff, ein weites Feld, das Thema. Grübel.

Elvira Madigan (Bo Widerberg, Schweden 1967)
Schöner, weicher und lichter Film, mit sehr gut aussehenden, innig spielenden Darstellern, einer äußerst traurigen Geschichte und vielen Gedanken in einem zarten, musikalischen Gespinst, die einzufangen ich leider noch zu unruhig bin. Blumenhaftes, impressionistisches Roadmovie ohne Autos über zwei Königskinder, die mit einander weglaufen bis in den Tod. Sixten desertiert vom adligen Soldatsein und seiner Ehe, Elvira vom Seiltanz, durch den sie berühmt wurde. Es gab die beiden wirklich, die Zeitungen berichteten, Toulouse-Lautrec malte Elvira. Sie gehen zu Fuß, mit ihren Taschen, wie die Landstreicher Pat und Patachon durch die lichtdurchflutete, weich gerundete Landschaft, rasten bei guten Menschen. Aber ein nachgereister Freund macht Elvira Schuldgefühle, weil sie Sixtens Frau und Kinder unglücklich gemacht hat, die Schlinge wird enger… Für mich auch ein unerwartetes, erfreutes Wiedersehen mit Pia Degermark, deren unschuldige, stumm-traurige Schönheit ich als Kind bewunderte, wenn ich sie auf den Fotos der Regenbogenpresse mit Carl Gustav von Schweden tanzen sah.

Deep End (Jerzy Skolimowski, GB/BRD 1970)
Ich wünschte, ich dürfte das Ende umarbeiten, aber ansonsten: von großer, britisch-polanskihafter Klasse, wie die Figuren ultralebhaft und agil durch dieses erotisierte alte Schwimmbad turnen. Der beängstigend vitale, fummelnde, pfeifentrillernde Bademeister (Karl Michael Vogler) – die sehr hübsche, spöttische, schwer zu beeindruckende Badeangestellte (Jane Asher) – der sehr junge Protagonist (John Moulder-Brown), der aus seiner lediglich altersbedingten Schüchternheit immer wieder cool und mutig raus springt und sich dann aber richtig was traut. Und diese drallen, lüsternen Hausfrauen und Prostituierten (Diana Dors, Louise Martini), die den Jungen packen und mit Haut und Haaren fressen wollen. Solche ins Korsett geschossene Tanten waren in meiner Kindheit allgegenwärtig. Hier offenbart sich, was ich immer von meinen weiblichen Verwandten nur ahnte – Respekt! Alle haben nur Sex im Sinn, und der Film mäandert durch haarsträubende, schlüpfrige Episoden und verliert den Kopf in aufregenden Settings (Rotlicht-Soho bei Nacht!). Dann reißt er sich da leider los und zwingt sich zu einem knalligen Ende mit Blut, für dessen Vorbereitung er viel seiner schönen Lebenszeit verbraucht. Das Blut sieht allerdings klasse aus. Blut seh ich immer wieder gern. (Auch dieser Film ist viel mehr Aufmerksamkeit wert als dies. Der verehrte HS-Kollege Michael Schleeh hat „Deep End“  ausführlicher hier besprochen.)

Jud Süß (Veit Harlan, D 1940), Kolberg (Veit Harlan, D 1945)
Zeitnahe Zeitreise anlässlich unserer Veranstaltung am 24. Januar 2012 in Zusammenarbeit mit dem Apollo Kino und der Friedrich-Wilhelm-Murnau Stifung. Besprechung folgt.




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Über den Autor

Silvia Szymanski, geb. 1958 in Merkstein, war Sängerin/Songwriterin der Band "The Me-Janes" und veröffentlichte 1997 ihren Debutroman "Chemische Reinigung". Weitere Romane, Storys und Artikel folgten.

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5 Kommentare zu "Filmtagebuch einer 13-Jährigen # 1"

  1. Eckhard Heck 22. November 2011 um 14:55 Uhr · Antworten

    Short Bus #001 ist unterwegs und kommt bald bei Hardsensations an. Meine Folgerecherche zu KREUZFAHRT DES GRAUENS – und insbesonder Karin Schubert – war etwas ernüchternd. Nirgends sonst sind ihre Schenkel derart lasziv ins Bild gesetzt wie dort. Da ich aufgrund von Übermüdung so ca. 2 bis 6 Minuten verpasst habe, muss ich den Film allerdings noch mal ausgeschlafen sichten.

    Zu DEEP END muss dringend noch was gesagt werden. Demnächst.

    Die VHS Aachen hat gerade ne Mini-Ausstellung (im zweiten Stock vor der Caféteria) zum Thema Unterhaltungs- und Propagandafilm im dritten Reich. Die Exponate und Texte machen neugierig.

  2. Silvia Szymanski 20. November 2011 um 13:11 Uhr · Antworten

    @Christoph: Aus „Heiße Ernte“ wäre ja noch viel mehr rauszuholen. Wenn ich sehe, wie du z. B. über Königs „Jägerblut“ bei den Eskalierenden Träumen schreibst und locker all diese Sprech- und Denkregister ziehst, da kann ich nur staunen. (Ich weiß, du findest diese Lobhudelei ätzend, aber ich muss das aus gesundheitlichen Gründen hin und wieder sagen, weil ich sonst keine Luft mehr kriege und platze.) Manchmal, wenn ich deine Sachen lese, fühle ich mich wie ein Flipperautomat, an dem in einem fort diese Lämpchen überall angehen, Oinks und Boinks und anderer komische Dinge passieren. Irgendwann werd ich noch ohnmächtig von dem Sound (s. „Stendhal Syndrom“). ;-)

    @Andreas: Ich wünschte selbst, ich wüsste mehr über die „Zuckerrohrpuppe“. Aber, ja, meiner unfachkundigen Meinung nach könntest du Recht haben mit Super 8; dem Film haftete dieses Sentimentale, Unwiederbringliche an, das Super 8 anscheinend für mich hat. Dieses Flair, als seien kostbarste Momente damit festgehalten. Die Verbindung mit heißen Bildern vom windbewegten Zuckerrohr, zwei lange, stumm und leidenschaftlich davor rammelnden, fernen, unbekannten Menschenpaaren und unverfroren zotigen Sprüchen, die wie böse Geister über ihnen marodieren, hat etwas Sinneverwirrendes, Psychedelisches. Der interessante Thread, den du gefunden hast, macht ein großes, schweres Fass dazu auf. In dem Film prallen halt sehr verschiedene Welten aufeinander. Der Sex sieht recht schön und gleichberechtigt aus. Der Titel und die Sprüche sind das Allerletzte. Anscheinend müssen Leute mit Sexualität immer wieder irgendeinen Mist anstellen, um sie sich ähnlicher zu machen. Wenn das so richtig absurd wird, finde ich es manchmal plötzlich lustig.

    @Alex: Danke, Freund :-) Aber, nein, ich glaub, jeden Monat krieg ich das nicht hin. Außerdem haben wir ja auch diesen „Shortbus“ (Arbeitstitel) für gemeinsame Kurzbesprechungen geplant, in den ich mich natürlich auch setzen werde.

  3. Christoph 17. November 2011 um 23:21 Uhr · Antworten

    „Scharen handfester Nachkriegsweiber, gestylt wie “Bitterer Reis”, strömen aus dem Bahnwaggon und werden nach altem, deutschem Brauch in Lager einquartiert.“

    Toller Satz. „Nachkriegsweiber“ – das trifft es sehr schön. Fesche Maderln, freche Dinger, kesse Mädels… Ich dachte mir ja schon die ganze Zeit: „Ja, wenn Silvia zu dem Film etwas schreiben würde…“ ;-)
    Würde mich auch freuen, wenn du das in Zukunft öfter machst, ein Filmtagebuch (beim ersten Lesen des Titels habe ich natürlich gestutzt. Ich muss vorsichtiger sein mit meinen sleazigen Bemerkungen). Natürlich kann es auch eine Bürde werden – zuletzt dachte ich auch, ich höre auf, mein Sehtagebuch auf Eskalierende Träume mit Kommentaren auszuschmücken – aber es überkommt einen eben oft auch einfach. Man kann gar nicht anders.

    Marcos Dachbodenzimmer hat sich in der Tat als magisch erwiesen.;-)

  4. Andreas 16. November 2011 um 01:38 Uhr · Antworten

    Da schließe ich mich gleich mal an, unbedingt mehr davon! :) Bei mir reicht’s in letzter Zeit noch nicht mal mehr zu Zahlen, geschweige denn längeren Kommentaren, was hoffentlich wieder besser wird. Jedenfalls sehr schöne Kurzkommentare (allein diese befreiende und beiläufige Selbstverständlichkeit eines Satzes wie „Das Blut sieht allerdings klasse aus. Blut seh ich immer wieder gern.“ – toll!), und der zu HEISSE ERNTE macht gleich noch mehr Lust auf den Film, wobei mich Christoph mit Beschreibungen und Screenshots bereits beträchtlich angefixt hat. Von DIE ZUCKERROHR-PUPPE MIT DER SCHWARZEN DONNERBÜCHSE hab ich bislang noch gar nichts gehört, war ursprünglich vermutlich ein Super8-Porno oder die Super8-(Neu?)Fassung eines Pornos? Zu dem Film und der Synchro gibt es eine mit moralischen Bedenken aufgeheizte Diskussion an einer recht kuriosen Stelle, wo man sie nun nicht unbedingt erwarten würde (hab erstmal nur die erste Seite gelesen, aber ich schätze an diesem Thread lässt sich recht anschaulich die enorme Diskrepanz der in dieser Hinsicht sorglosen 70er Jahre, in denen diese vielen schnodderigen, öbszönen, schmierigen, fragwürdigen, blindwütigen Synchros und Filme überhaupt erst entstehen konnten, und dem Political-Correctness-Klima heutiger Tage, in denen vergleichbares undenkbar wäre, nachvollziehen): http://www.dtm.at/vbulletin/showthread.php?t=17941

  5. Alex Klotz 16. November 2011 um 01:10 Uhr · Antworten

    Wundervoll! Gibt’s das jetzt jeden Monat? Ich würde ja gerne auch mehr schreiben als die minimalen Zahlenspiele, allein, es fehlt die Zeit dazu…und mit den Zahlen werde ich eh immer noch nicht richtig warm.

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