Filmtagebuch einer 13-Jährigen #11: 1. Terza Visione
Von Silvia Szymanski // 15. Mai 2014 // Tagged: Abenteuer, featured, Gangsterfilm, Horror, Italien, Italo-Western, Komödie, Kriegsfilm, Mondo, Muskelhelden, Sexploitation, Western // 5 Kommentare
„TERZA VISIONE“ – 1. Festival des italienischen Genrefilms, Nürnberg, 25.-27. April 2014
Die Nürnberger Stadtmauer „Frauentormauer“ ähnelt einem hohen, alten Bahndamm, man fühlt sich wie am Rand der Welt. An ihr entlang führt eine Gasse, auf die aus einer langen Kette von Schaufenstern mildes, durchdringend angenehmes Aprikosenlicht flutet. Viele Mädchen sitzen dort in den Fenstern – appetitlich, makellos, wie große Früchte oder „Conchs“, diese übergroßen, gewellten karibischen Meeresschnecken, deren aufgewölbte Innenseite porzellanhaft und paradiesisch rosa glänzt. Wie schön Weiblichkeit sein kann! Ich schaue sehr auf Männer, aber ich kann verstehen, dass auch Frauen begehrt werden. Die meisten Häuser sind nach ihren groß leuchtenden Hausnummern benannt, aber eins heißt „Puffrutscher“, und daneben das heißt „Große Liebe“. Wir kamen nachts nach dem Festival dort vorbei.
Am nächsten Tag buchte ich in der Nähe mein Zimmer für den nächsten „Hofbauerkongress“, der im Sommer stattfinden wird. In der Straße gibt es viele Sexshops, Stripclubs, einen Hiphopclub und das Literaturhauscafé, und im Hotel sieht es aus wie in einem Enz-Film. Vielleicht war es früher ein Kino, denn im Treppenhaus gibt es in der Wende einen aufwändigen Schaukasten wie für Filmplakate. Nun hängt darin eine vergilbt pastellblau glänzende Schulweltkarte; das Frühstückszimmer beherrscht ein großer Druck der Mona Lisa. Ich sprach den herumschlendernden, weißgelockten Hund an, aber er hob nur kurz die Brauen und war an mir nicht interessiert. Es ist ein erotischer Ort, wenn man so ist wie ich, und das ist nicht so selten, in unseren schmuddelfilmverliebten Kreisen.
Christoph und Andi – zwei der Freunde, die sonst die Hofbauerkongresse veranstalten – haben auch „Terza Visione“ ins Leben gerufen. Es fand zum ersten Mal statt, und es war ein Riesenerfolg, viele Leute aus ganz Deutschland waren da. Diese Besucher verstehen wirklich was vom italienischen Genrekino, sie werden über die Filme so schreiben, wie ich es nicht kann, dachte ich. Also erlaubte ich es mir, dumm zu werden und mir zum Schreiben nur die Nebensächlichkeiten aus den Filmen zu merken. Alles andere verschwand durch Satans Schweinehand. Im Nachhinein tut mir das Leid.
So fielen mir in der „Mörderklinik“ (Lionello de Felice, Elio Scardamaglia, 1966) die Türklinken auf, für deren Schönheit dieser Film eine kleine Obsession pflegte. Und ich freute mich, Francoise Prevost dort wieder zu begegnen. Immer, wenn ich sie auf der Leinwand sehe, ist sie nervös, gefühlvoll, unglücklich. Gefangen in einem exklusiven Leben, im goldenen Käfig einer von machthungrigen, am Seelischen nicht interessierten Männern bestimmten Klasse. Ihr Gesicht ist schön, aber etwas an ihm ist aus dem Gleichgewicht. Man könnte denken, ihre Probleme will ich haben. Aber ich bin mir sicher, sie wäre lieber mit mir auf der anderen Seite, um nach dem Film mit den Jungs auf der Terrasse noch zu rauchen. 8/10
Im „Geheimnis des gelben Grabes“ (Armando Crispino, 1972) erschien auf einmal Nadja Tiller in einer wahnsinnigen, insektenhaft schillernden Brokatrobe, ein prachtvoll und gefährlich klirrender, geschmetterter, sich wie eine Vulva aufblätternder Akkord. 6,5/10
Ist das eine besondere Eigenschaft des italienischen Genrekinos, wie die Menschen inszeniert werden? Ich werde mal drauf achten. Auch die „Sieben goldenen Männer“ (Marco Vicario, 1964) präsentierten sich reizvoll, schön unterschiedlich. Jeder kam aus einem anderen Land, wie die TV-Kandidaten in „Einer wird gewinnen“ oder die „7-Länder-Spezialitäten“-Pralinen in den internationalitätsbegeisterten Sechziger Jahren. Es gab ihnen gegenüber nur eine einzige Frau, doch sie war viele. Immer wieder überraschte sie ihren Lover, den understating trocken-intellektuellen Chef der Bande, mit extravaganten und gewagten Outfits. Aus Berechnung. Sie spielte doppelt, aber dabei unterschätzte sie ihn – als Mastermind, und auch als Mann. Sie hatte auch eine stylishe Sammlung von Perücken; in der mit dem Pagenschnitt und der stylish keck gedrehten „6“ ähnelte sie einer alten, manchmal jäh vermissten Freundin. 8/10.
Einer meiner Lieblingsmänner war Lou Castel. Er ist berühmt, erzählte man mir nachher, aber ich kannte ihn nicht und wusste nicht, ob ich die einzige bin, die von seinem nicht eigentlich hübschen, weich-wulstigen, embryonalen Gesicht seltsam angemacht wurde. Es passte zu ihm (in „Matalo!/Willkommen in der Hölle“, Cesare Canevari, 1970), dass er sich mit Bumerangs statt mit Pistolen wehrte. Alle im brütend heißen, hell wirbelnden Westernstaub trugen verwegene Seventies-Rockstar-Boutiquenmode: Felljacken, Gürtel mit großen, blickmagnetischen Schnallen, enge Hosen, offene Hemden auf gestressten Leibern. Der Film war wie eine fieberkrank wabernde Fuzzgitarrenausschweifung, haschvernebelt, psychedelisch, sich zu Schneckenformen und Mäandern drehend. Wie das hypnotische Paisleymuster auf Lou Castels Jacke, bei dem man denkt, da geht es immer tiefer rein, und immer filigraner aufgefächert, in eine andere Welt. 8,5/10
Der Mann in „Wehe, wenn die Lust uns packt“ (Mariano Laurenti, 1972) sah Lee Hazlewood sehr ähnlich. Die Frauen waren alle gutaussehend, nicht nur Edwige Fenech. Es war durchweg sommerlich und heiter in dem verschlafenen Städtchen, in das der fremde, leichtlebige Lächler mit seiner abenteuerlichen Vagabundenkutsche eine kleine Zeit lang kam. 6/10
„Woodoo – Schreckensinsel der Zombies“ (Lucio Fulci, 1979) Al Cliver ist so durch und durch licht und rotblond bärtig, als hätte das die Sonne mit ihm gemacht. Ich sehe ihn gern. Irgendwann wird was aus uns. 6,5/10
„Maciste im Kampf mit dem Piratenkönig“ (Domenico Paolella, 1962): Der Film begann einfach und herkömmlich – und lebte plötzlich auf, hellwach und wunderbar, als Ed Fury/Maciste die Szene betrat und fortan nicht mehr verließ. Sehr charmant, sein neckisches Stirnrunzeln und Augenzwinkern im Bewusstsein seiner überpräsenten, obszönen Attraktivität und der Unwahrscheinlichkeit und Übertreibung der Stunts und Heldentaten. Ein kleines Eingeborenenmädchen streichelte ihm scheu den nackten Oberarm; er zeigte ihr, wie man eine Kokosnuss zum Trinken mit dem Finger aufstößt; mein Sitznachbar machte mich auf die beziehungsreiche, unschuldige Erotik der Szene aufmerksam. Als Maciste gefangen wurde, musste er mit einem Muskelmann nach dem anderen kämpfen und einen Obelisk aufrichten, unter dem sein Freund (lebendig) lag. Macistes Ehescheu zugunsten solch abenteuerlichen Heldentums fand bei seiner coolen Dauerfreundin kollegiales Verständnis. 7,5/10
„Die Banditen von Mailand“ (Carlo Lizzani, 1968): eine erlesen schöne Filmkopie mit lebenden, wie transzendenten Farben. Da war wieder, und jedesmal schöner und unerklärlicher, diese regenhafte Frische, Direktheit und perspektivische Mehrschichtigkeit mancher Sixties-Straßenfilme (wie auch in Hofbauers „Heißes Pflaster Köln“). Immer wieder schaut man abgelenkt an den vorderen Figuren vorbei, weil sich hinten, abseits, etwas tut, das mit der „eigentlichen“ Handlung nichts zu tun hat. Das gibt es auch auf Renaissancegemälden (gibt es dafür ein Wort?); Dominik Graf macht das auch. Während der berühmten, großen, atemberaubend kraftvoll und elegant komponierten Verfolgungsjagd durch das elektrisierend echte Mailand hängst du wie ein Auto mit der Nase auf den Straßen und kannst alles riechen. 8,5/10
„Das bittere Leben“ (Damiano Damiani, 1961): Auf einer breiten nächtlichen Treppe von der Unter- in die Oberstadt fechten zwei „befreundete“ Männer, beide Chefs, einen langen Disput aus. Der eine ist elegant, aufstrebend – und verschuldet bei dem Älteren, der es gleichgültig genießt, den Jüngeren in seiner Macht qualvoll strampeln zu sehen. Nach dieser Nacht wird der Jüngere den Gedanken nicht mehr los, den selbstzufrieden sadistischen alten Mann zu ermorden. Er schickt dazu seinen kleinen Angestellten vor, und die Schuld, die beide auf sich laden, zerdrückt sie, ungeachtet ihrer Klassenunterschiede. Es ist hochaufmerksam gesehen, wie mit schreckgeweiteten Augen: Wie sie mit dem schwarzen Fleck nicht leben können, den sie in ihr Dasein gemacht haben, inmitten ihrer Umgebung, die ahnungslos den gewohnten Lebensstil fortsetzt. Auf einer Party umsummen den Mordchef die trivialen Dialoge der Frauen. Die Harmlosigkeit ihres Smalltalks über Marotten, Mode, Männer wirkt wie ein verlorenes Paradies. Das Bild der Treppe, auf der nach dem Disput dann auch der Mord geschah, hat sich in den Männern installiert, quälend und gespenstisch plastisch, wie eine fixe Idee. Das erinnerte an Dostojewki (auch, vielleicht, an manches von Chabrol, aber es ist schon zu lange her, dass ich seine Filme gesehen habe). Alles ist aufregend genau und fein, man schnuppert jedes Körnchen; der Film ist ganz nah an der Luft der Stadt, dem Duft der Straßen, dem Angstschweiß seiner Leute. Und alles flutet in die Kamera, das atmosphärische Drinnen-Draußen, die räumlichen Räume, das psychologische 3D – so auf dem Punkt, dass der Film an jeder Stelle wie ins Schwarze getroffen zittert. 9,5/10
„Das Lusthaus teuflischer Begierden“ (Renato Polselli, 1972): Manche waren genervt von dem albern-clownesken Erotomanen in dem Film. Aber ich mochte diese starke Dosis manischer Lebendigkeit und fand es löblich, dass der Mann nonstop eine 1-a-exaltierte Egoshow hervorsprudelte wie ein verrückter Zimmerspringbrunnen und seine Sätze schließlich sogar sang, um eine Frau in Schwierigkeiten zu zerstreuen. Der Film ist sexbesessen und konfus und schnitt mit großer Schere noch mal extra rein in alles – angetörnt und sorglos, als hätte er zu viel genommen und zu wenig geschlafen. Ein Schäferhund schleckt ihr mit seinem groß aufgenommenen Zahngesicht rohe Leber vom nackten Leib. Und ihre rätselhafte, elusive Freundin ist eigenwillig hübsch, in sich verpuppt. Dass dazu unablässig über Sex und Sein philosophiert wurde, verstärkte noch den Rausch und das Gewirr und das Absurde. Als griffe einem jemand ins Gehirn und wuschelte es kräftig durcheinander. Das tat mir auch schon in Polsellis „Oscenità“ gut. 9/10
In „Mondo Infame“ (Roberto Bianchi Montero, 1963) tragen kirchengläubige Leute in einer Prozession durch ihren Ort Pyramiden ihrer als Engel-Emblem auf Gestelle geschnallten Kinder, reglos, starr und folgsam. In einem chinesischen Restaurant aßen schöne Frauen absurde Dinge, so dass man dachte: Dann nehmen sie auch alles andere in den Mund. Ängstliche Javaner warfen Ziegen in einen Vulkan, damit er sie statt ihrer fraß. Der Kommentator fasste alles unter dem Thema „Opfer“ zusammen, was weiter her geholt schien als es war. 8/10
In „Jäger der Apokalypse“ (Antonio Margheriti, 1980) bohrten sich in einem unterirdischen Sexclub für Soldaten die Soldaten der Gegenseite durch die Mauern wie in einem schuldgefühlgeplagten Albtraum. Sie nahmen einen Mann gefangen und setzten ihn in einen Käfig in ein Wasserloch. 7,5/10
Ich sprach danach mit einem Jungen. So eine Wassersache hält man auch ohne Ratten (wie im Film) nicht lange aus, erzählte er. Nässe sei für Körper überhaupt ein unterschätztes Problem. In Kriegen sei es zum Beispiel noch wichtiger als Drogen oder Waffen, dass man auf trockene Schuhe achtet und immer ein Paar warme Socken in Reserve hat; sonst kriegt man einen „Grabenfuß“, weicht auf und fault. Ihm war aufgefallen, wie oft Filmhelden desungeachtet leichtsinnig die Durchnässung ihrer Schuhe in Kauf nehmen. Manchmal nur um ein Stück Quatsch aus dem Wasser zu holen, das bald von selber angespült worden wäre. Erst NACHHER ziehen sie die Schuhe aus und schütten eimerweise Wasser draus, mit einer Haltung, die „Na, Scheiße, klar doch, alles nass! Aber so ist die verdammte Welt“ ausdrückt.
Danach fand einer von uns eine große, kalte Flasche Schnaps im Kühlschrank. Ich sagte noch: „Oh, die ist schön groß. Da werden wir aber lang von haben.“ Fünf Minuten. Er war ein Weinbrand, und er hieß „Gaston“. Es hatte sowieso schon eine poröse, hysterische Stimmung geherrscht wie in einem nächtelang gefahrenen Reisebus, nun wurde es unendlich lustig. Haarsträubende Geschichten. Wir kullerten wie Pfirsische im Alkohol, aufgelöst vor Lachen, jeder in seiner Pfütze, alles war luftig, dionysisch. Schließlich zog ein Freund sein Hemd aus, sein nackter Körper schien sich zu verklären, alles verschwamm und wurde riesengroß und leuchtend.
Über „Das bittere Leben“ und „Sieben goldene Männer“ schrieb Udo Rothenberg in seinem Blog „L’Amore in Città“. Und Robert schrieb über viele der Filme in seinem Sehtagebuch bei den „Eskalierenden Träumen“.
Herzlichen Dank an Glimm Stengel für die schönen Live-Screenshots (Maciste auf dem Titelbild und „Das bittere Leben“)!
5 Kommentare zu "Filmtagebuch einer 13-Jährigen #11: 1. Terza Visione"
Mein Gott, Silvia, was für ein wunderschöner Text. Ich liebe es, wie du Filme siehst, sie aufsaugst, scheinbar unwichtige Details wahrnimmst, sie transzendierst und farbenprächtig neu erblühen lässt. Das ist wie Alchemie.
Danke dafür, deine Worte haben diese rauschhaften Tage wieder auferstehen lassen, mit all ihren wilden Eindrücken, Farben, Gerüchen, mit ihrem Gelächter und Erstaunen.
Vielen Dank, Pelle! :-)
Sehr schön und vor allem sympathisch geschrieben. :)
Danke! :-)
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