Verfolgungsjagden vol. 2: THE FRENCH CONNECTION (William Friedkin, USA 1971)

Von  //  13. März 2015  //  Tagged: , , , ,  //  3 Kommentare

Verfolgungsjagden Vol. 2: THE FRENCH CONNECTION (William Friedkin, USA 1971)

Vorab eine kurze Klarstellung: Mir stehen nicht die technischen Mittel zur Verfügung, um eine Sequenzanalyse so zu machen, wie es üblich ist: mit „echtem“ Film und der Einzelbildbetrachtung. Ich habe den Film via Blu-ray geschaut, dann, um die einzelnen Einstellungen festzuhalten, auf dem Rechner. Der Timer des VLC-Players ist leider nicht exakt, die Zeitangaben sind deshalb mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Ich denke aber, dass das der Gültigkeit meiner Aussagen keinen allzu großen Abbruch tut.

Als ich hier die erste Sequenzanalyse zur Verfolgungsjagd aus BULLITT als „Vol. 1“ veröffentlichte, ahnte ich nicht, dass satte dreieinhalb Jahre bis zur Fortsetzung ins Land ziehen würden, wusste aber schon, dass diese sich der Verfolgungsjagd aus Friedkins stilprägendem Polizeifilm THE FRENCH CONNECTION widmen müsste. Wie die entsprechende Sequenz aus Yates‘ Film gilt auch sie als Sternstunde der Actionfilm-Kunst und wird regelmäßig erwähnt, wenn es um die Frage nach den besten Verfolgungsjagden der Filmgeschichte geht. Drei Jahre nach BULLITT kann Friedkin für sich logischerweise nicht in Anspruch nehmen, die Form so revolutioniert zu haben, wie Yates das ohne Frage getan hatte. Das war auch Friedkin und seinem Produzenten Philip D’Antoni klar, der zuvor eben auch BULLITT produziert hatte. Die Jagd aus THE FRENCH CONNECTION stellt vom formalen Standpunkt aus betrachtet nur eine Verfeinerung der Grundlagenarbeit dar, die Yates geleistet hatte. Was sie dennoch für eine Analyse interessant macht und sie von ihrem Vorbild unterscheidet, sind vor allem inhaltliche Aspekte: Die Situation, in der sich Jäger und Gejagter bei Friedkin befinden, ist eine gänzlich andere und das schlägt sich eben auch in seiner Inszenierung wider. Wie Yates erzählt auch Friedkin im Rahmen der Verfolgungsjagd eine eigene Kurzgeschichte. Anders als bei diesem sind in diese Geschichte jedoch mehr Menschen involviert, es steht deutlich mehr auf dem Spiel. Und mehr als „nur“ die Persönlichkeit des Helden zu konturieren, fügt sich das Szenario, das Friedkin entwirft, in das desolate Bild einer aus den Fugen geratenen Welt, das THE FRENCH CONNECTION zeichnet. Passend dazu stellte Friedkin die Verfolgungsjagd nicht, es wurde nicht auf einer abgesperrten Straße gedreht, vielmehr ließ er seinen Stuntman bzw. Hackman selbst tatsächlich mit Vollgas durch den New Yorker Verkehr heizen. Nur eine Sirene auf dem Dach signalisierte anderen Fahrern, dass da ein Wagen in hohem Tempo anrauschte. Einige der im Film enthaltenen Unfälle ereigneten sich dann auch tatsächlich, wurden nicht gestellt. Die Sequenz wirkt so real, weil sie das im Kern wirklich ist.

Inhaltlich auffällig an dieser Verfolgungsjagd ist, dass es bis zum Schluss keine direkte Auseinandersetzung zwischen Jäger und Gejagtem gibt. BULLITT zeichnet die Verfolgungsjagd als Duell, bei dem sich die zwei Konfliktparteien lange Zeit belauern, dann versuchen, sich auszustechen. Im letzten Teil dienen ihre Autos als Waffen und es ist dann auch ein Ramm-Manöver Bullitts, das die Entscheidung bringt. In THE FRENCH CONNECTION wird die in der Verfolgungsjagd ja sowieso schon bestehende räumliche Trennung von Held und Schurke noch betont: Der Flüchtige sitzt in einem Zug, der auf einer erhöhten Trasse fährt, der Cop in einem Auto, mit dem er der Bahn hinterherrast, um vor ihr an der nächsten Station zu sein und den Verbrecher dort in Empfang zu nehmen. Die Jagd ist nicht das Mittel der Auseinandersetzung, sie ist nur der Weg zur finalen Konfrontation. Diese Distanz zwischen verzweifelt den Anschluss haltendem Cop und dem seinem Zugriff enthobenen Verbrecher ist typisch für THE FRENCH CONNECTION, der überlegen grinsende Drogendealer im feinen Zwirn gegen furchtbar inadäquate Cops antreten lässt, denen mehr als einmal nur der Zufall hilft.

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Der direkte Vergleich zwischen BULLITT und THE FRENCH CONNECTION zeigt außerdem, dass beide Verfolgungsjagden  jeweils ziemlich genau in der Mitte des Films platziert sind, ungefähr zur Stundenmarke. Auch in der Länge nehmen sich beide nicht viel. Die Verfolgungsjagd in BULLITT dauert rund zehneinhalb Minuten, die Verfolgungsjagd in THE FRENCH CONNECTION eine knappe Minute länger. Eklatant ist hingegen der Unterschied bei der Anzahl der Einstellungen. Den 162 Einstellungen von BULLITT setzt Friedkin 224 entgegen, die sich damit auf eine durchschnittliche Länge von ca. 3,13 Sekunden belaufen, deutlich weniger als BULLITT mit seinen rund 3,9 Sekunden. Zöge man die wenigen Einstellungen der Verfolgungsjagd von THE FRENCH CONNECTION ab, die deutlich über diesem Wert liegen, ergäbe sich wahrscheinlich noch eine sehr viel krassere Differenz. Gerade zum Ende hin arbeitet Friedkin fast nur noch mit Einstellungen, die kaum die Sekundenmarke überschreiten, aber immer wieder bremst er das hohe Tempo an dramaturgisch wichtigen Stellen mit überdurchschnittlich langen Einstellungen ab, etwa wenn Doyle sich ein Auto organisieren muss (Einstellung 64, 39 Sekunden) oder wenn Nicoli durch den Aufprall des Zuges zu Boden geworfen wird (Einstellung 201, 18 Sekunden). Der Verzicht auf diese beiden Einstellungen allein würde die durchschnittliche Einstellungslänge sofort auf 2,9 Sekunden reduzieren. Besonders während des Climax (s. u.) ist die Differenz zwischen superkurzen und sehr langen Einstellungen eklatant: Ein Viertel der Zeit, nämlich 33 Sekunden, verwendet Friedkin allein für die letzten beiden Einstellungen (von insgesamt 53) der knapp zweiminütigen Sequenz. Die durchschnittliche Einstellungslänge innerhalb des Climax beträgt 2,1 Sekunden, ohne diese beiden Einstellungen betrüge sie nur noch 1,6 Sekunden. Während also Peter Yates in seiner Komposition die Coolness, Gefasstheit und Kontrolle seines Protagonisten betont, das Tempo nur zu den Spitzen anzieht, suggeriert Friedkin durchgehend Kontrollverlust und unaufhaltsame Raserei. (Angeblich ließ er sich den Schnittrhythmus von Carlos Santanas „Black Magic Woman“ diktieren.)

Wie bei meiner BULLITT-Analyse verwende ich für die grobe Strukturierung der Sequenz wieder Bordwells/Thomas‘ Modell einer fünfteiligen Gliederung, die eine etwas differenziertere Betrachtung als die klassische Dreiakt-Struktur ermöglicht und der dramaturgischen Komplexität der Sequenz eher gerecht wird. Vorab eine kurze Einordnung der Verfolgungsjagd in den größeren Kontext des Films: Doyles (Gene Hackman) und Russos (Roy Scheider) Vorgesetzter hat die Cops von dem Fall, an dem sie arbeiten – sie beschatten zwei Gangster, die ihrer Meinung nach kurz vor Abschluss eines großen Drogendeals stehen – nach einigen Fehlschlägen abgezogen. Der Marseiller Drogendealer Charnier (Fernando Rey) weiß indessen noch nichts von seinem Glück und setzt seinen Killer Nicoli (Marcel Bozzuffi) auf Doyle an, der ihm schon zu nah gekommen ist. Die Ergreifung Nicolis würde Doyle wider Erwarten zurück ins Geschäft bringen.

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Setup: Doyle kommt nach Hause in seine triste Plattenbausiedlung, gefrustet und nachdenklich. Im Hintergrund sieht man als Vorahnung auf das Kommende den „L-Train“ (kurz für „elevated train“), einen auf einer Trasse fahrenden Zug. Plötzlich wird Doyle von einem versteckten Scharfschützen beschossen, statt seiner jedoch eine ihn passierende Frau getroffen. Er kann sich in Sicherheit bringen und dringt in das Haus ein, auf dessen Dach er den Schützen aus der Deckung heraus ausgemacht hat. Oben angekommen findet er nur noch das zurückgelassene Gewehr vor, doch beim Blick über die Brüstung sieht er Nicoli unten davonlaufen. Er hetzt ihm sofort hinterher. (1:04:00 – 1:05:59, Einstellung 1 – 34 (34 Einstellungen)).

Complicating Action: Doyle nimmt die Verfolgung Nicolis auf, verliert ihn jedoch an einer nahegelegenen Station des L-Trains. Der Killer hat sich auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig versteckt und kann dort einen soeben einfahrenden Zug besteigen. Doyles Rufe, dass sich ein gesuchter Verbrecher im Zug befindet, erlangen die Aufmerksamkeit eines mitfahrenden Polizisten, der die Abfahrt des Zuges zwar nicht mehr verhindern kann, Nicoli aber sofort beobachtet. Vom Ticketverkäufer erfährt Doyle, dass die nächste Haltestelle an der 25th Avenue ist. Er rennt hinunter auf die Straße, konfisziert dort einen Wagen und rast dem bereits abgefahrenen Zug unter der Trasse hinterher. (1:05:59 – 1:08:18, Einstellung 35 – 64 ((30 Einstellungen))

Development: Während Doyle sich in hohem Tempo durch den New Yorker Verkehr kämpft, hat der Cop im Zug die Verfolgung des sich zur Führerkabine vorarbeitenden Nicoli aufgenommen. Es kommt zur Konfrontation der beiden, bei der der Polizist niedergeschossen wird. Nicoli dringt in die Fahrerkabine ein und fordert den Lokführer mit gezogener Waffe dazu auf, an der nächsten Station weiterzufahren. Indessen ist Doyle an der Station der 25th Avenue angekommen, an der der Zug an ihm und den wartenden Passagieren vorbeirauscht. Während Doyle sich zurück in seinen Wagen begibt, hat sich ein Bahnbeamter auf den Weg zur Fahrerkabine begeben. Er klopft, erkundigt sich nach dem Befinden des Lokführers und fordert Nicoli auf, herauszukommen. Doyle hat das Risiko unterdessen erhöht. Er verursacht mehrere Unfälle und kann nur ganz knapp einer Frau mit Kinderwagen ausweichen, die die Straße überquert. (1:08:18 – 1:12:51, Einstellung 65 – 148 (83 Einstellungen))

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Climax: Dem Beamten gelingt es, die Tür zu öffnen. Es fordert Nicoli auf, sich zu ergeben und wird von diesem niedergeschossen. Dem Stress nicht gewachsen, erleidet der Zugführer eine Herzattacke. Der Zug rast nun führerlos auf die Endstation zu. Panik bricht im Zug aus. Doyle ist es gelungen, wieder zum Zug aufzuschließen. Fest entschlossen legt er die letzten Meter zurück, während der Zug auf einen stehenden Waggon auffährt und die Passagiere von der Wucht des Aufpralls zu Boden gerissen werden. Nicoli schlägt gegen eine Scheibe und fällt benommen und mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden, rappelt sich auf und sucht einen Ausstieg. Unterdessen parkt Doyle seinen Wagen, steigt aus und positioniert sich an der Trasse unterhalb des Zuges. (1:12:51 – 1:14:47, Einstellung 149 – 201 (53 Einstellungen))

Epilog: Nicoli wankt aus dem Zug und begibt sich zur Treppe nach unten. Doyle sieht ihn und erwartet ihn dort. Schließlich stehen sie sich gegenüber, Nicoli oben, Doyle unten. Ein Schreck huscht über Nicolis Gesicht, der weiß, dass es keinen Ausweg mehr gibt. Er dreht sich um, um wegzurennen, doch der erschöpfte Doyle schießt ihm in den Rücken. Während Nicoli tot die Treppe hinunterfällt, sackt auch Doyle zusammen. Der Leichnam Nicolis kommt neben dem Cop am Fuß der Treppe zum Liegen. (1:14:47 – 1:15:41, Einstellung 202 – 224 (23 Einstellungen))

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Mit THE FRENCH CONNECTION etablierte Friedkin zuvor dem Dokumentarfilm vorbehaltene Stilmittel im Unterhaltungskino. Sein Film zeichnet sich durch das körnige Filmmaterial, eine Vielzahl handgehaltener Einstellungen, einen überaus schmutzigen, rohen Look und eine dazu passende, ungeschliffene, aktionsbetonte Dramaturgie aus. Statt eines in der Tradition alter Westernhelden stehenden Protagonisten bietet er dem Zuschauer den heruntergekommenen, asozialen „Popeye“ Doyle als Identifikationsfigur an, einen Alkoholiker, der die Nächte in seiner heruntergekommenen Absteige mit billigen Nutten verbringt. Die Ermittlungsarbeit der Polizei baut auf Glück, Zufall und Unvermögen auf, anders als in Yates‘ BULLITT, mit seinem souveränen, stets alles überschauenden und kühl kalkulierenden Titelhelden, den Steve McQueen mit stoischer Miene als Inbegriff der Coolness interpretiert. Diese Coolness spiegelt sich auch in der Verfolgungsjagd wider, die wesentlicher Ausdruck von Bullitts Persönlichkeit ist: Er sitzt immer am längeren Hebel, lässt sich nie aus der Ruhe bringen, wartet geduldig auf den Moment, an dem er zuschlagen kann, und von dem er weiß, dass er kommen wird, weil er sich auf seine überlegenen Fähigkeiten verlassen kann. Das ist in THE FRENCH CONNECTION völlig anders.

Der wichtigste dramaturgische Kniff, die Besonderheit dieser Verfolgungsjagd, ist die doppelte Entkopplung von Jäger und Gejagtem. Dadurch, dass Doyle und Nicoli sich auf im wahrsten Sinne des Wortes unterschiedlichen Ebenen bewegen – Doyle im Auto auf der Straße, Nicoli im Zug auf einer erhöhten Trasse – wird die Abhängigkeit Doyles von anderen, nicht in seinem Einflussbereich liegenden Faktoren betont. Während der Killer auf gerader Strecke seinem Ziel ohne jede Behinderung entgegenjagt, muss sich Doyle durch den Straßenverkehr kämpfen, dabei Kopf und Kragen riskieren, um den Anschluss nicht zu verlieren. Dem Rennfahrtalent Bullitts/McQueens weiß er nur halsbrecherische Lebensmüdigkeit entgegenzusetzen: Die Hupe ist dementsprechend im Dauereinsatz und während Bullitt die Kontrolle über seinen Wagen fast nie verliert, wird Doyle immer wieder in Unfälle verwickelt, hat mehr als einmal das Glück des Tüchtigen auf seiner Seite. Gleichzeitig versetzt die Entkoppelung der beiden Gegenspieler Friedkin in die Lage, zwei „Geschichten“ zu einer zu verweben: Unten jagt Doyle dem Ziel entgegen, vor dem Zug die Endstation zu erreichen, oben muss sich Nicoli, der im Zug ja auch ein Gefangener ist, gegen die an Bord befindlichen Ordnungshüter erwehren. Friedkin greift hier Joseph Sargents THE TAKING OF PELHAM 1-2-3 und im weiteren Verlauf des Jahrzehnts folgenden Geiselnahme-Thrillern vor. Spannung erwächst also nicht nur aus der Frage, ob Doyle Nicoli erwischen wird, sondern auch aus der Sorge um die Passagiere, die mit einem zu allem entschlossenen Killer eingesperrt sind.

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Friedkin lässt die Situation bis zum Finale mehr und mehr eskalieren: Kurz nachdem Doyle losgefahren ist, kann er einem von rechts kommenden Wagen gerade noch ausweichen (Einstellung 70, 1:08:32), wenig später, der Polizist wurde angeschossen (Einstellung 79, 1:09:10), die Führerkabine erobert (Einstellung 92, 1:09:56), kommt es in ganz ähnlicher Situation zur ersten Kollision (Einstellung 111, 1:11:22), weil Doyle nach oben zur Trasse geschaut hat. Überhaupt ein wichtiges Gestaltungselement: die Blicke Doyles nach oben (Einstellung 69, 90, 110, 124, 155). Kurz darauf, der Bahnbeamte hämmert nun an die Tür zur Fahrerkabine (Einstellung 104 – 148, 1:10:53 – 1:12:49), wird Doyle bei einem riskanten Überholmanöver gerammt (Einstellung 128, 1:12:00). Aber der Cop, der ja mit jedem Kontrollverlust, jeder Karambolage Gefahr läuft, den Anschluss zu verpassen, erhöht das Risiko noch weiter: Er rast ungebremst durch kreuzenden Verkehr (Einstellung 136, 1:12:20) und kann im Anschluss nur ganz knapp einer Mutter mit ihrem Kind ausweichen (Einstellung 141 – 146, 1:12:40 – 1:12:46). Zum letzten Unfall kommt es schließlich just in dem Moment, als Nicoli im Zug von dem Bahnbeamten konfrontiert wird (Einstellung 150 – 169, 1:12:53 – 1:13:28): Doyle schaut zur Trasse, verliert die Straße aus den Augen, rauscht knapp an einem LKW vorbei und kracht in eine Wand (Einstellung 160, 1:13:08). Danach nähert sich das Rennen dem Ende: Doyle hat die Kontrolle zurückerlangt, der Zug ist in Sichtweite und nähert sich seiner Endstation. Das Tempo während des letzten Abschnitts der Jagd ist enorm: Von den 53 Einstellungen des Climax sind ganze 9 länger als zwei Sekunden, 29 maximal eine Sekunde lang. Diese stetige Beschleunigung lässt sich auch an den sich während der Sequenz im Schnitt verkürzenden Einstellungslängen ablesen: Während der Complicating Action sind es 4,6 Sekunden, im Development 3,8 und im Climax noch 2,12.

Das Ende der Verfolgungsjagd ist interessant, weil es noch keine Entscheidung gebracht hat (ein weiterer Unterschied zu BULLITT, wo der Held die Schurken in eine Tankstelle rammt und so ihren Tod herbeiführt). Nicoli taumelt aus dem Zug, Doyle erwartet ihn. Die Höllenfahrt ist für beide zu Ende, die Entscheidung steht aber noch aus. Wie in einem Westernduell stehen sie sich gegenüber, beide gezeichnet von den vorangegangenen Strapazen (Einstellung 216 – 219, 1:15:17 – 1:15:23). Nicoli hatte seine Waffe zuvor verloren (Einstellung 197, 1:14:09) und ist demzufolge unbewaffnet. Doyle hat keine Lust, die Sache noch länger hinauszuzögern oder den Verbrecher gar über seine Rechte aufzuklären. Als der ihm die Gelegenheit bietet, schießt Doyle ihm – in der vielleicht berühmtesten Einstellung des Films (die auf dem Plakat spiegelverkehrt abgebildet wurde) – gnadenlos in den Rücken (Einstellung 221, 1:15:24).

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III

In seinen besten Vertretern nutzt der Actionfilm die Action nicht bloß als reines Spektakel, sondern zur Zeichnung seiner Figuren. BULLITT ist ein Idealbeispiel: Die Art, wie Bullitt sich in der Jagd verhält, wie er taktiert, auf jede Aktion seiner Gegner eine Antwort weiß und nie die Ruhe verliert, kennzeichnen ihn als souverän, intelligent und kühl handelnden Mann, darüber hinaus als hervorragenden Autofahrer. Doyle ist nichts davon, das einzige, was ihn positiv auszeichnet, sind sein Instinkt und seine Sturköpfigkeit. Die Welt von THE FRENCH CONNECTION ist nicht für Helden gemacht. Der Kollateralschaden, den „Räuber und Gendarm“ in ihrem Ringen verursachen, ist enorm, und am Ende hat man nicht so sehr das Gefühl, das im Namen des Rechts und des Gesetzes gehandelt, sondern das simple Rache geübt wurde. Doyles Fahrt durch Brooklyn hat nichts mit filigraner Technikbeherrschung zu tun, es ist ein motorisierter Amoklauf, der ohne Rücksicht auf Verluste verübt wird, mit geradezu manischer Besessenheit auf das Ziel gerichtet. Man vergleiche nur McQueens maskenhaftes Gesicht mit Hackmans expressiver Mimik: Er schreit, flucht, reißt die Augen auf oder kneift sie zusammen, knirscht mit den Zähnen und kämpft mit jedem ihm zur Verfügung stehenden Muskel. Sein Wagen ist am Ende ein verbeultes Wrack und das Westernduell, mit dem die Verfolgungsjagd endet, keine faire Auseinandersetzung zwischen zwei sich zwar gegenüberstehenden, aber doch auch irgendwie respektierenden Kontrahenten: Es ist eine Exekution. Wenn Doyle nach dem Todesschuss auf die Treppe niedersinkt, ist das mithin nicht nur körperlicher und geistiger Erschöpfung nach einem ca. 12-minütigen Adrenalinrausch geschuldet. Es ist auch das Zeichen dafür, dass hier ein Stück Zivilisation weggeworfen wurde.

Ich hatte schon den Realismus erwähnt. Friedkin drehte die Verfolgungsjagd während des normalen Verkehrs. Man erkennt das am Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer, wie auch an der Kameraarbeit, die in den Außenperspektiven sehr „candid“ wirkt. Friedkin muss Geschwindigkeit angesichts der Enge des zur Verfügung stehenden Raums und der Waghalsigkeit des Stuntmans kaum simulieren, aber wenn, dann gelingt ihm das einerseits durch typische, kurz über dem Asphalt entlangrasende „Autosubjektiven“ und durch den Ton: Doyles ununterbrochenes Hupen vermischt sich mit dem Quietschen der Reifen und dem Krachen des Blechs, im Zug bildet das charakteristische Rattern eine ständige Soundkulisse, in die sich an den entsprechenden Stellen noch das Geschrei der panischen Fahrgäste mischt. Don Ellis‘ Soundtrack verstummt während der gesamten Sequenz. Der Trubel legt sich erst zum Finale hin und dann – wenn Nicoli auf die Treppe zuwankt – setzt auch die verhaltene Musik wieder ein. Wie in alten Western ist die zuvor noch dicht bevölkerte Straße plötzlich wie leergefegt, und die Assoziation des Duells wäre perfekt, wenn noch ein Strauch durchs Bild rollen würde. Doyle bemerkt nichts mehr um ihn herum, hat nur noch die Hinrichtung des Killers im Sinn. Er ist schon zu weit gegangen, als dass er jetzt noch umdrehen könnte.

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Regie: William Friedkin, USA 1971


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Lebt in Düsseldorf, schaut Filme und schreibt drüber.

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3 Kommentare zu "Verfolgungsjagden vol. 2: THE FRENCH CONNECTION (William Friedkin, USA 1971)"

  1. Dennis Neiss 22. April 2018 um 17:15 Uhr · Antworten

    Wunderbarer Artikel! Ich würde mich über eine Fortsetzung dieser Reihe sehr freuen. Walter Hills „THE DRIVER“ wäre ein geeigneter Kandidat für Vol.4.

  2. Oliver 15. März 2015 um 13:24 Uhr · Antworten

    Vielen Dank! Freut mich, dass dir der Text gefällt.

    Über TO LIVE AND DIE IN LA hatte ich tatsächlich nachgedacht. Den könnte ich eh mal wieder schauen. Auf jeden Fall wollte ich nicht wieder 3 Jahre ins Land ziehen lassen. Lass dich überraschen! :)

  3. david 15. März 2015 um 11:29 Uhr · Antworten

    Wow! Tolle Analyse. Ich fand es sehr spannend, wie du den Kontrast absolute Kontrolliertheit vs. eskalierender Kontrollverlust bei BULLITT und FRENCH CONNECTION ausarbeitest.
    Macht auf jeden Fall (zusammen mit deinem Text von letzter Woche) große Lust, Friedkins Film noch mal zu gucken. Gibt es bald Vol. 3 mit TO LIVE AND DIE IN L.A.? ;-)

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