Die Passagierin
Von Jamal Tuschick // 23. Dezember 2018 // // Keine Kommentare
Gerahmtes Fragment. Die nationalkommunistische Erinnerungspolitik schloss die Juden vom polnischen Martyrium aus.
Liza im Liegestuhl auf dem Deck eines Passagierschiffes (Ozeanriesen) in den Farben und Formen der 1950er Jahre – das ist vielmehr ein Genre als ein Bild, das als Standfoto isoliert verbreitet wurde. Es sind die Farben des Westens und seine Sujets, nie war Amerika mächtiger und die amerikanische Botschaft von der freien Welt populärer. Hinter Liza liegt eine transatlantische Passage, das Schiff geht in Liverpool vor Anker. Man sieht nichts von der kollabierten Welthandelsmetropole. Man sieht Liza monarchistisch lächeln. Die Kamera nimmt sie wie ein Fotomodell auf, in einer Szene, die Michelangelo Antonionis „Blow Up“-Design von 1966 vorwegnimmt. Eine Aureole hüllt Liza ein, während sie von ihrem Mann angehimmelt wird. In der nächsten Einstellung erfährt Walter, dass er über seine Frau nichts Wesentliches weiß. Er verkörpert nebenbei den wirtschaftswunderdeutschen Schlussstricher, der von nichts was gewusst hat in seiner selbstgewissen Bräsigkeit.
So verdeckt angreifend beginnt der polnische Spielfilm „Die Passagierin“. Systemkritik und Gegneranalyse äußern sich so im Geist der Zensur. Regisseur Andrzej Munk zeigt den Kapitalisten als ruchlosen Blender und gedankenlosen Aufschneider und gleichzeitig liefert er seinem Publikum eine Ikonografie zum Träumen. Der Film erlaubt einen Blick durch den Eisernen Vorhang. Das wissen die Genossen Zensoren. Das läuft unter der Überschrift Entgegenkommen gegen Entgegenkommen.
Nun erscheint am Fuß einer Gangway sowie in Liza Blickfeld eine dunkle Schönheit. Sofort verdunkelt sich Liza. Die Mimik zeigt ein Erinnerungsgewitter an. Es kommt zum Showdown, die Damen kreuzen die Klingen ihrer Blicke im Stil unversöhnlicher Interventionen und treffen sich dann im Vernichtungslager wieder. Munk erlebte die Kinopremiere seiner „Passagierin“ nicht. Er verunglückte im Spätsommer des Jahres 1961 in der Gegend von Łowicz tödlich. Munk hatte Szenen in Auschwitz-Birkenau gedreht und war auf der Rückfahrt. Witold Lesiewicz beendete zwei Jahre später die Arbeit. Er brachte ein Kunststück fertig. Man kann das Resultat gleichermaßen als Vollendung und als gerahmtes Fragment betrachten. Walter gegenüber hatte sich Liza als Überlebende der nationalsozialistischen Mordmaschine ausgegeben. Nun erscheint sie als Aufseherin. In der ersten Rückblende sucht sie den geringsten Abstand zu der aufgeflogenen Täteropferumkehr-Pseudoidentität, indem sie sich als wohltätige Wärterin darstellt.
Hauptdarstellerin Aleksandra Śląska spielte zum zweiten eine KZ-Aufseherin. Lizas Gegenspielerin ist die politische Gefangene Marta (Anna Ciepielewska). Marta kriegt Blumen zum Geburtstag, sie erfreut sich der bodenlos-bebenden Anbetung ihres mitgefangenen Liebhabers Tadeusz (Marek Walczewski), der außerdem ein großer Künstler ist und ständig Mittel und Wege findet, der Geliebten nahezukommen. In seiner Gestalt hypostasiert sich ein polnisch-politisches Ideal jenseits der Kitschgrenze – in orgiastischen Aufwallungen des guten Kommunisten. Die Drangsalierten retten ein Kind und zeigen sich bis zum Abwinken opferbereit und findig. Den nach dem Kind suchenden SS-Idiotinnen präsentiert man eine Puppe und suggeriert eine mächtige Sinnestäuschung. Das vollzieht sich im zweiten Selbstdeutungsdurchgang, in dem Liza deutlich stärker als Täterin auftritt und nur noch zu ihrer Rechtfertigung meinungsstark ist. Der Zuschauer erkennt in ihr eine Eifersüchtige, die Marta den Geburtstagsstrauß aus dem Gewächshaus der SS neidet und auch sonst von niedrigen Gefühlen beherrscht wird. Gleichwohl setzt sie Marta schonend in den Effektenlagern (Kanada) ein und rettet ihr wohl auch noch zweimal das Leben. Offen bleibt, ob Marta überlebt und Liza auf dem Schiff wiederbegegnet. Oder ob Liza von einer Ähnlichkeit in einen Erinnerungssturm hineingerissen wurde.
Der Film gehört bestimmt nicht nur in ein Archiv des kommunikativen Gedächtnis Polens. Er balanciert auf einem Grat zwischen trivial und genial. Die Übertreibungen sind natürlich Balsam für die Seelen Geschundener.
Die Kulturwissenschaftlerin Magdalena Saryusz-Wolska erklärt: „Der Holocaust ist nach wie vor eines der wichtigsten Themen im polnischen Kino.“
Die nationalkommunistische Erinnerungspolitik schloss Juden vom polnischen Martyrium aus. Zugleich gab es eine „sozialpsychologische Ratlosigkeit“ bei der Inkorporation des jüdischen Schmerzes. Deshalb ist Marta politisch und nicht jüdisch. Das bewahrte Kind ist indes jüdisch. Auch die Ermordung jüdischer Kinder findet eine Darstellung.
Magdalena Saryusz-Wolska attestiert dem Film „ein gekonntes Spiel zwischen den Zeilen“. Als Munk in Auschwitz die „Passagierin“ drehte, erkannte Heiner Müller nach einem Desaster mit der „Umsiedlerin“ in Berlin: „Mit Realismus geht es nicht.“
Sobald das Publikum im Kino oder im Theater anfängt zwischen den Zeilen zu interpretieren und zu schmunzeln und zu munkeln, weiß man, dass eine schwache Form von Journalismus an die Stelle der Kunst getreten ist. Heiner Müller sagt: „Das ist gut für das Theater, aber schlecht für die Kunst.“
Auch insofern ist der Film ein Dokument, wie Erinnerungskultur in einer Diktatur funktioniert.
Heiner Müller sagt: „Eine Diktatur ist gut für die Kunst.“ Ich ergänze: Sie gibt ihr einen Gegner.
Die Passagierin, Polen 1961/63. Regie: Andrzej Munk, Witold Lesiewicz. Mit Aleksandra Śląska, Anna Ciepielewska, Marek Walczewski, Jan Kreczmar