Astrid

Von  //  24. Dezember 2018  //   //  Keine Kommentare

Im Schnee schreien. Astrid Lindgrens Existenz lieferte eine Vorzeichnung für all die alleinerziehenden berufstätigen Mütter nach ihr.

Die Geschichte beginnt auf einem Vorhof des Todes. Astrid Lindgren (1907 – 2002) erlebt als Greisin die Verehrung ihrer Leser*innen in der Stille einer Kammer. Sie sichtet ihre Geburtstagspost. Zitate ergehen stichprobenartig aus dem Off wie Nachrichtenunterbrechungen einer Unterhaltungssendung. Grundsätzlich ist der Ton vertraulich, die Autorin erscheint als schwedisches Allgemeingut.
Rühren Lindgren die Vereinnahmungen?
Die Kamera bleibt stets im Rücken der Jubilarin und arbeitet an dem Bild einer Gebeugten. Lindgren legt eine Kassette ein, wahrscheinlich ist sie die letzte Kassettenrekorderbenutzerin der Welt. Sie spielt sich ein Lied vor, das Kinder für sie aufgenommen haben. In einer Zeile geht es um das richtige Leben.
Pass auf, dass du richtig lebst.
Ohne dramaturgische Relevanz werden im Verlauf des Films Kartengrüße verlesen.
Das Geschehen rutscht aus dem Seniorenstift in Lindgrens Jugend. Man sieht die Berufene in der Kirche. Sie mokiert sich zum Vergnügen ihrer Geschwister über die steifen Erwachsenen, aber, und vermutlich liegt da ein Geheimnis ihres Erfolgs, sie erhebt sich nicht über das angebundene Volk von Vimmerby in Südschweden. Ihr Spott nimmt Anteil.
Immer wieder muss Lindgren aus sich herausgehen und im Schnee schreien; so lebendig ist sie.
Astrid Lindgren teilte mit Alice Miller das Schicksal, den eigenen Sohn nicht so beglückt zu haben wie die Kinder im Übrigen. Die biografische Eintrübung ergab sich aus Vorschriften, die das weibliche Dasein in den 1920er Jahren zur Strapaze machten.
Lindgren (Alba August) wird schwanger von dem Verleger Reinhold Blomberg (Henrik Rafaelsen), der erst im Alleingang und dann gemeinsam mit Lindgren eine Zeitung herausbringt. Sie wird schwanger von einem schwierig verheirateten, zögerlich in Scheidung lebenden Mann, der hinter einem Vorbau aus Redlichkeit die Naivität seiner „kleinen Sekretärin“ ausnutzt. Lindgren badet das gemeinsame Vergnügen aus.
Regisseurin Pernille Fischer Christensen erzählt die Doppelbödigkeit der patriarchalen Verhältnisse, ohne Anführungs- und Ausrufezeichen. Bezeichnend sind viele Zuschreibungen, mit denen Blomberg Lindgren vergattert. Offiziell ist die Tochter eines gottesfürchtigen Großpächters Volontärin. Tatsächlich dient Lindgren dem Herausgeber in zig Funktionen. Blomberg produziert in seinem Wohnzimmer, er hat wenigstens sechs Kinder, deren Mutter nur auftritt, um dramatisch zu sein.
Gleichzeitig zeigt sich Lindgrens forderndes Wesen. Der Aufstrebenden fehlt der passende Rahmen für ihren Expansionsdrang. Lindgren trägt einen Sohn heimlich aus und überlässt Lars, genannt Lasse, der Obhut einer erwerbsmäßigen Ersatzmutter in Dänemark. Lindgren reagiert mit dem Arrangement auf Blombergs Befürchtung, für die Verführung einer Minderjährigen im Gefängnis büßen zu müssen. Der Film lässt offen, wie groß seine Befürchtungen waren. Womöglich hat er Lindgren mit einem Horrorszenario manipuliert. Obwohl die Sache auffliegt und es zu einer Verurteilung kommt, bleibt Blomberg weitgehend ungeschoren, während Lindgrens Existenz eine Vorzeichnung für all die alleinerziehenden berufstätigen Mütter nach ihr liefert. Der Entwurf aus bürgerlichem Scheitern und unbürgerlicher Selbstermächtigung hat noch kaum Vorbilder und Vokabular, als Lindgren sich daran macht, den Stimmen ihres Herzens eine größere Macht einzuräumen als ihren sozialen Ängsten.
Lindgren lässt sich zur Sekretärin in Stockholm ausbilden. Sie findet eine Stelle, holt Lasse zu sich und weist Blomberg zum letzten Mal ab. Sie passiert die Modernitätsmarken der Roaring Twenties. Der Film schwelgt in Bubikopfbildern und Tanzszenen zu Charleston. Dann ist man wieder auf dem Land, es kommt zu einer Versöhnung. Lindgrens Eltern riskieren schließlich ihre eigene Ächtung, indem sie sich mit dem unehelichen Enkel zeigen. Sie gehen mit der Zeit, um nicht von ihr übergangen zu werden.

„Astrid“, Schweden/Dänemark 2018. Regie: Pernille Fischer Christensen. Mit Alba August, Maria Bonnevie, Henrik Rafaelsen

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