Another Year – So etwas wie ökonomisches Gefühlskino?

Von  //  3. März 2011  //  Tagged:  //  5 Kommentare

Menschliche Unzulänglichkeit und der Kampf um Achtung und Selbstachtung gehören zu den aufwühlendsten Sujets, die zu erzählen sind, und Mike Leigh bohrt in Another Year beharrlich und tief in den Wunden.
Im Haus von Tom und Gerri treffen sich Verwandte und Freunde des bereits in die Jahre gekommenen Ehepaars. Vor dem Hintergrund des fabelhaft geordneten Lebens der beiden – ihrer Lebenserfahrung und Reife – arbeiten die anderen ihre Krisen und Rückschläge ab.

„Ein glückliches Ehepaar, das allein wirkt geradezu provokant, als wolle Mike Leigh ausrufen: Seien wir doch realistisch, glückliche Menschen, die gibt es eben auch!“, schreibt Jan-Philipp Kohlmann auf negativ-fim.de. Genau so habe ich das in meinem zutiefst verwurzelten Defätismus auch empfunden. Glücklicherweise wird im weiteren Verlauf der Handlung das Klischee vom bis zur Unerträglichkeit verständnisvollen „Gutmenschen“ keineswegs bedient. Denn auch der bodenständige Tom und die beherrschte Gerri haben zu kämpfen. Im Gegensatz zu den anderen, haben sie vielleicht nur eine Ahnung davon wofür.

Wer empfindsam und empfänglich dafür ist, wird sich sicher in die relative Einförmigkeit der Problembewäligungsstrategien sehr gewöhnlicher Figuren hineinversetzen können. Deren Leidensdruck wird nicht nur auf der breit angelegten Dialogebene vermittelt. Während es schon zermürbend ist ihnen in ihrer Hilflosigkeit zuhören zu müssen, wird die Kamera geradezu intim. Nicht im voyeuritischen Sinn, sondern mit grossem Respekt und Aufmerksamkeit für die tatsächliche Dynamik menschlichen Ausdrucks. Jemandem beim Fühlen zusehen, könnte man abgewandelt sagen. Leigh erhebt dies zum Prinzip des Films, welches in der Schlussszene kulminiert.
Hervorragend, wie dieser „unbarmherzige“ Blick so mühelos über alle Einstellungen durchgehalten wird, nicht nur in den dafür prädestinierten Nahaufnahmen. Ein Beispiel: Auf einer Party mokiert man sich gerade über Ken, einen Freund des Hauses, der unter seiner Scheidung zu leiden hat und sich ein wenig gehen lässt. Dieser wankt, bereits schwer vom Alkohol gezeichnet, im Hintergrund durch die Szene und versucht dabei – trotz Jogging-Anzug – seine Würde zu wahren. Treffender und trauriger hätte man diese Einstellung kaum drehen können.

Das Korsett, das Leigh dem Film in Form des jahreszeitlichen Ablaufs als Metapher für das Werden und Vergehen verpasst, strukturiert die Erzählung und gibt dem Film seinen langsamen aber zwingenden Rhythmus. Dadurch, und durch etliche subtil eingestreute, humorvolle Szenen und Dialogideen, wird das ganze dann zu so etwas wie einem letzlich doch sehr ökonomischen Gefühlskino im besten Sinn.
Wer die Möglichkeit hat den Film im Original zu sehen, sollte sie nutzen. Die Synchronisation grenzt stellenweise an eine Verballhornung.

Nein Herr Siedelmann, als typisch britisches Sozialdrama lässt sich Another Year nicht einfach runtergucken. Dass Sie das in diesem Fall erkannt haben, stimmt immerhin hoffnungsvoll.

Großbritannien 2010. Regie: Mike Leigh

Verweise:
Another Year auf OFDb
Pressespiegel auf Film-Zeit.de

 

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Über den Autor

Eckhard Heck besitzt eine der umfangreichsten Baustellen-Sammlungen Nordrhein-Westfalens. Unter anderem ist er Autor, Musiker, Maler, Fotograf und Glaubensberater.

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5 Kommentare zu "Another Year – So etwas wie ökonomisches Gefühlskino?"

  1. Eckhard Heck 19. März 2011 um 18:01 Uhr · Antworten

    @Paul… ja, denke ich auch. Man müsste sich mal auf die Suche nach dem aktuellen, spannenden britischen Kino machen. Wenn man sich die Nominierungen der British Independent Film Awards anschaut, findet sich da leider wirklich recht wenig. Stephen Daldry („Billy Elliot“) ist zuletzt mit „der Vorleser“ – einer D/USA Produktion – angetreten, Paul Greengrass dreht mit Matt Damon, Jonathan Glazer, der mit „Sexy Beast“ einen grossartigen Erstling vorlegte, hat seit 2004 nichts mehr gemacht,… Danny Boyle gehört fast schon zur Vätergeneration. Gareth Edwards und Andrea Arnold sind immerhin Hoffnungsträger. Oder die Briten haben eine gänzlich andere Vorstellung von Independent. Was ja auch noch sein könnte.

  2. Paul 19. März 2011 um 12:59 Uhr · Antworten

    Hehe, jawoll, packen wirs an! (Diese Aufbruchsstimmung würde Ken Loach sicher gefallen.)

  3. Eckhard Heck 18. März 2011 um 23:52 Uhr · Antworten

    Habe gerade „Kes“ gesehen und war/bin sehr beeindruckt. Wenn es nach Herrn Siedelmann ginge, dann wars das, ja. Aber wir werden das zu verhindern wissen. Paul und ich und das britische Kino. Besprechungen zu „Red Road“ und „Fish Tank“ folgen.

  4. Paul 18. März 2011 um 20:35 Uhr · Antworten

    Hi there! ;)

    „Another Year“ ist echt hervorragend; Neben Leighs neuem Werk hat mir vor allem das letzte von Ken Loach („It’s a free world“) extrem gut gefallen. Hast du/habt ihr schon die Filme von Andrea Arnold gesehen? „Red Road“ hatte schon was, „Fish Tank“ wäre hier grad im Kino, komme aber vermutlich nicht mehr dazu…

    War es das dann schon wieder mit den interessanten Briten? :)

  5. Marco Siedelmann 11. März 2011 um 00:01 Uhr · Antworten

    Naja, nur weil alle paar Jahre mal ein Altmeister wie Mike Leigh kommt und was richtig gutes abliefert – was ja bei ihm auch nicht so die Selbstverständlichkeit ist – heißt das ja nicht, das sich das britische Kino nicht in schmerzhaften Todeszuckungen winden würde. Bleibe im Moment noch dabei, das zeitgenössische Brit-Kino ist das mitunter uninteressanteste der Welt…

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