Dream Girls

Von  //  5. Oktober 2011  //  Tagged: , , , ,  //  Keine Kommentare

Manchmal denkt man sich: Andere Kulturen sind gar nicht so anders. Manchmal denkt man aber auch: Hier blicke ich gerade ins Wohnzimmer grüner Wesen aus einer anderen Galaxis. Einen Anflug davon hatte ich bei der Sichtung der Dokumentation Dream Girls von Kim Longinotto und Jano Williams aus dem Jahr 1994. Die Protagonistinnen des Films sind japanische Mädchen, die eine Eliteschule besuchen. Dort lernen sie vor allem – putzen! Zwei Jahre lang werden sie gedrillt, üben, wie man mit Pinseln Fugen von Möbelstücken und Fenstern reinigt, mit Wattestäbchen die Stäubchen vom Klavier entfernt und auf Knien mit traditionellen Fingerlingen den Boden sauber tupft. Ah, eine Schule für Hauswirtschaft, werden Sie vielleicht denken, und damit ins porentief reine Klo greifen.

Die Mädchen – in einem harten Auswahlverfahren auf Leber, Niere und Stimmbandschluss getestet – besuchen die Takarazuka Music School. Sie sollen dort in Tanz und Gesang ausgebildet werden, um an der berühmten Takarazura Revue teilzunehmen. Pfeiler der Ausbildung ist eine beinharte Hierarchie; die Unterstufe wird von der Oberstufe im peniblen Reinigen des Schulgebäudes angeleitet und überwacht. Der Rektor der Schule lehnt die Zuhilfenahme von Hilfsmitteln wie Staubsaugern als Verweichlichung ab. Ihm zufolge ist die Disziplin, die sich seine Schülerinnen beim Putzen nach traditionellem Verfahren aneignen, Grundlage für die Takarazuka-Ausbildung. Absoluter Gehorsam ist selbstverständlich. Wie Gespenster gleiten die uniform grau gekleideten Mädchen durch die Flure, immer direkt an der Wand lang, bloß keinen Platz beanspruchen, nicht auffallen, nicht anecken.

Genauso befremdlich wie die Ausbildung ist dann auch die Takarazuka Revue. Allerdings befremdlich schön. 1913 als Werbemaßnahme eines reichen Eisenbahnchefs erfunden, zieht die Mischung aus Musical, Soap Opera und Showtanz jährlich Millionen Besucher in ihren Bann.Vor allem Liebesschnulzen landen auf der Takarazuka-Bühne, etwa Vom Winde verweht als Singspiel, das Musical Elisabeth oder japanische Liebesmärchen. Der Clue: Alle Rollen, auch die Männerfiguren, werden von Frauen gespielt – eben von jenen verhuschten Reinigungskräften, die im Internat ausgebildet worden sind. Die Spielerinnen entscheiden sich schon währende der Ausbildung für eine Geschlechterrolle, der sie bis zum Ende ihrer Karriere treu bleiben. Die maskuline Körperhaltung und Gestik lernen sie unter anderem von Soldaten, die eigens zum Marschunterricht an die Schule geholt werden. Die Top Stars der Show sind gefeierte Berühmtheiten, die in Sachen Beliebtheit Bill Kaulitz und Konsorten in nichts nachstehen. Vor allem die „Männer“ erhalten tonnenweise Liebesbriefe und Geschenke vom zumeist weiblichen Publikum. Wunderschön sind diese androgynen Glitzerwesen, wie David Bowie, Prince oder Frank N’Furter. Und selbstbewusst wirken sie auf der Showbühne, stolz und mit geradem Rückgrad präsentieren sie ein westlich gefärbtes Paralleluniversum, das sie nur vom Hörensagen kennen.

Hier liegt dann auch die Stärke der schlichten und weitgehend unkommentierten Dokumentation; sie offenbart die Kluft zwischen den japanischen Männern und Frauen, die zumindest in den 1990er Jahren noch ein unüberwindlicher Abgrund zu sein scheint. Wären doch nur alle Männer wie diese Frauen auf der Bühne, sagen die Takarazuka-Zuschauerinnen und lächeln verkniffen. Sie flüchten sich aus ihrem patriarchalisch geprägten Umfeld in die Bilder der Revue. Die Bühnenhelden sind zuvorkommende Galane, die um die Damen werben wie um Prinzessinnen, ihre Angebetete auf Händen tragen und der Auserwählten jeden Wunsch von den Augen ablesen. Frauen als Männer ohne schlechte Eigenschaften. Die Takarazuka-Märchen sind ein Gegenentwurf zum japanischen Alltag, in dem die Zuschauerinnen unter der Knute ihrer dominanten Ehemänner und Väter stehen und „persönliche Entfaltung“ ein Synonym für akkurat zusammengelegte Bügelwäsche ist. Aber nicht nur für das Publikum ist der Ausflug ins Takarazuka eine kurze Flucht. Die Tänzerinnen sind nicht zuletzt wegen ihrer guten Duckmäuschenausbildung auf dem Heiratsmarkt begehrt. Besonders die Frauen in Männerrollen gelten als einfühlsame Gattinnen, die aus Erfahrung wissen, wie man am Morgen das Sakko zu halten hat, damit der Angetraute leicht hinein schlüpfen kann. Und ob die Takarazuka-Spielerinnen mit Mitte Zwanzig weiter tanzen oder heiraten (beides zusammen dürfen sie nicht), entscheiden – die Väter.

UK 1994, Regie: Kim Longinotto, Jano Williams


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Über den Autor

Bianca Sukrow, geb. in Aachen, ist Literaturwissenschaftlerin, Mitgründerin des Leerzeichen e.V., freie Lektorin und Journalistin. Im persönlichen Umgang ist sie launisch, besserwisserisch und pedantisch.

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