Tatort… Hauptbahnhof Kairo

Von  //  28. Januar 2012  //  Tagged: , ,  //  2 Kommentare

Mein HS-Kollege Marco Siedelmann wies mich hin auf diesen großen Klassiker des ägyptischen Kinos der 1950er Jahre, voller berühmter Darsteller, und in der Schule – und Klasse – des schön übertriebenen, theatralischen, dichten, treibenden Neorealismo, den ich auch schon in „Verbotene Straße“ (Mexiko 1951) toll fand. „Tatort…“ tanzt zwar nicht so heiß und blumig wie die „… Straße“, beißt aber dafür noch schwerer und fester ins mitleidige Herz.

Er spielt die ganze Zeit fast nur im Hauptbahnhof von Kairo, einem großen, turbulenten Kessel, wo alles erhitzt und umgerührt wird: Gewaltige, unbarmherzig ihren Weg rollende Maschinen mit erotischem Appeal und einem Übermaß an Kraft. Schmieröl, Ruß und Schweiß. Arbeiterkampf und brodelndes soziales Mit- und Durcheinander. Die zarte, traurige Liebe zweier schöner, junger Leute. Kurvenreiche, übermütig scherzende, sleazy Limonadehändlerinnen. Ehrbar verheiratete, bigotte Schleier-Bürgerinnen. Grobschlächtige Kerle. Kinder, die ehrfürchtig und fasziniert bei allem dabei stehen. Im Mittelpunkt: der arme, zerlumpte, in großem Stil rührende, verwirrte, Hunderte von Pin-Ups sammelnde Zeitungsverkäufer Kenawi, getrieben von einer sexbesessenen, vergeblichen Liebe zu Hanuma (Hind Rostom), der wilden, carmenhaften Ober-„Schlampe“ unter den illegalen Limomädchen.

Mit diesem Film kam für seinen Regisseur, damals 28, der Durchbruch; jede Szene hat das Zeug zum Filmplakat und wurde zur Ikone, die Kinder spielten alles auf der Straße nach: Wie Hanuma mit Kenawi am brodelnd urbanen Bahnhofsplatz vor dem modernen Springbrunnen und dem Pharaonendenkmal achtlos grausam spielt. Wie Kenawi hinkt, was für eine ausgesucht kaputte Strickmütze er doch trägt, und wie er tanzt, die sündige und rebellische Colaflasche über seinem Kopf schwenkend, die ihm Hanuma während einer spontanen Rock `n´ Roll Party aus dem Waggon gereicht hat. Wie er immer chaplinesk verrückter wird, die Katze für seine zukünftige Frau und seine Bruchbude für ihren Palast hält, und wie er herzzerreißend und verlassen schreit. Wie er entgeistert leidend die rollenden Waggons anstarrt, die die Schwellen auf und niederdrücken, während er weiß, dass in dem Schuppen jetzt ein anderer Hanuma fickt: Ihr stämmig-maskuliner Verlobter, der Gewerkschaftsgründer Abu Seri (Farid Shawqi), hat sie dort zunächst im Zorn ins Stroh geschubst, aber dann rekelt sie sich da so unwiderstehlich wollüstig wie Gina Lollobrigida oder Jane Russel, nur noch greller, drastisch lockender und vor allem verrückter. Und als Hanuma einmal im Scherz von ihren Freundinnen mit Wasser nass gespritzt wird, wie da das Kleid an ihrem Hintern klebt, man sieht den Slip sich abmalen, ach, es ist ein Fest.

Ägypten 1958, Regie: Youssef Chahine

 

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Über den Autor

Silvia Szymanski, geb. 1958 in Merkstein, war Sängerin/Songwriterin der Band "The Me-Janes" und veröffentlichte 1997 ihren Debutroman "Chemische Reinigung". Weitere Romane, Storys und Artikel folgten.

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2 Kommentare zu "Tatort… Hauptbahnhof Kairo"

  1. thomas 29. Januar 2012 um 11:16 Uhr · Antworten

    Merke: Mehr Perlentaucher lesen ;) Da hatte ich sogar darauf hingewiesen, dass der Film über die arte-Mediathek eine Woche lang verfügbar ist ;) http://www.perlentaucher.de/feuilletons/2011-10-04.html#a32207

  2. Intergalactic Ape-Man 28. Januar 2012 um 18:15 Uhr · Antworten

    Da läuft einem ja das Wasser im Munde zusammen. Vielleicht gibt es ja mal eine Arte Edition? Sowas muß man doch irgendwo kaufen können. *grummel*

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