Jud Süss, 24.4., 20 Uhr, Capitol Aachen

Von  //  22. April 2012  //   //  3 Kommentare

Eine Kooperation von: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung (Wiesbaden), Institut für
Kino und Filmkultur (Köln), hardsensations.com (Aachen), Apollo Kino&Bar/Capitol Theater
(Aachen), HistoriAquis (Aachen)

Oben genannte Partner zeigen den nationalsozialistischen Propagandafilm „Jud Süß“ in seiner
unzensierten, ursprünglichen Schnittfassung, wie sie 1940 im Auftrag von Josef Goebbels ins Kino gebracht wurde. Der Film entstand als teures Prestige-Produkt unter strengster Aufsicht des Propagandaministers und unter der Regie von Veit Harlan.

Es handelt sich bei dem Film „Jud Süß“ (D 1940, Regie: Veit Harlan) um einen Vorbehaltsfilm, der aus leicht verständlichen Gründen nur innerhalb eines Seminars, also mit Begleitung durch einen Referenten gezeigt werden darf.

35mm-Projektion!!!

Ort: Capitol, Seilgraben 8, 52062 Aachen, Tel. 0241 5157776

Mehr Infos: https://www.apollo-aachen.de/

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3 Kommentare zu "Jud Süss, 24.4., 20 Uhr, Capitol Aachen"

  1. Silvia Szymanski 25. April 2012 um 21:16 Uhr · Antworten

    Hallo Patricia,

    es ist wahrscheinlich überflüssig, das zu sagen, aber um es doch noch mal klar zu machen: Dass JUD SÜSS nicht ohne erklärendes Begleitprogramm gezeigt werden darf, liegt natürlich nicht an den Veranstaltern des Kinoabends im Capitol. Ich persönlich fände es auch völlig in Ordnung, den Film bei einem ARTE Themenabend im Fernsehen sehen oder ihn mir als DVD in der Stadtbibliothek ausleihen zu können, aber das geht nicht. Deshalb wollten wir von Hard Sensations, das Apollo/Capitol und die Friedrich-Murnau-Stifung ja den Leuten ermöglichen, den Film dann eben im Kino zu sehen, um sich mit ihm auseinander setzen zu können. Er ist ja ein sehr interessantes Zeitdokument.

    Ich bin also eher gegen den Giftschrank, verstehe aber auch diejenigen, die für ihn sind; sie scheinen auch wirklich immer noch in der Mehrheit zu sein. Es ist ein sehr seltsames Gefühl, von einer Kinoleinwand oder dem Bildschirm diese bösen Karikaturen jüdischen Lebens, den Hass und diese kalte Verachtung gegenüber „dem Juden“ vom Mob in JUD SÜSS entgegengeschleudert zu kriegen. Es ist, als wären die alten Zeiten wiedergekehrt. Das schreit für mich förmlich nach einer reflektierenden Diskussion mit anderen nach der Sichtung des Films. Schon allein, um dieses Gefühl wieder wegzukriegen und sich zu versichern, dass diese Zeiten wirklich endlich vorbei sind. Ich stelle mir auch vor, man wäre eine Jüdin und müsste sich diese Beschimpfungen aus dem deutschen Fernsehen anhören, das den Film ausstrahlt…

    Ich weiß nicht, ob es noch immer in erster Linie die Angst vor der Verführbarkeit der Deutschen ist, die viele für den „Giftschrank“ sein lässt. Vielleicht ist es eher das bleibende Entsetzen vor dem, was damals geschehen ist. Also eher etwas Emotionales, das ich gar nicht einfach so runterbügeln oder wegargumentieren möchte.

    Natürlich werden wir sowieso mit Propaganda jeglicher Couleur zugeballert ;-) Und wir sind garantiert nicht so schlau, wie es gut wäre. Das ist schlimm, ja.

    Den Vortrag fand ich schön lebendig. Der Referent kommt von der Filmwissenschaft, ist also kein Historiker. Klar wäre es gut, man hätte alle relevanten historischen Daten im Kopf. Ich lese aber auch seit Jahrzehnten über die Nazizeit und kann mir die verdammten Daten immer noch nicht wasserdicht merken. Von daher hab ich da Verständnis.

    (Dass das Capitol an dem Abend kein Popcorn verkaufen mochte, um den Film vom Unterhaltungskino abzugrenzen, ist, würde ich sagen, Geschmackssache. Stimmt, der Referent war eher anderer Meinung und legte den Besuchern sogar nah, sich von dem Film zunächst nur unterhalten zu lassen und ihn erst nachher zu analysieren. So dass man nacherleben kann, wie es dem Publikum damals mit dem Film vielleicht gegangen ist. Ich kann so etwas aber sowieso nicht; die Gedanken kommen von selber, weil es mir weh tut, zu sehen, wie Oppenheimer in dem Film behandelt wird.)

    • Patricia Donassy-Derek 26. April 2012 um 14:11 Uhr ·

      Hallo Silvia,

      danke für Deine Reaktion, freut mich. Hätte ich direkt schreiben sollen: Ich finde es klasse, dass Hard Sensations die Vorführung auf den Weg gebracht hat, ich hatte Wochen vorher Karten reserviert, um nur ja reinzukommen. Vielen Dank dafür!

      Den Filmwissenschaftler fand ich super. Experte für filmische Propaganda-Strukturen. Da ich für mehr Medienkompetenz für alle bin, war er mir lieber als ein Historiker. Ich habe das mit der Geschichtsschreibung aufgegriffen, um die Legitimation, mit der eine institutionell vorgeschrieben Interpretation begründet werden kann, abzuklopfen. Dabei habe ich unterstellt, es geht dabei spezifisch um NS-Gedankengut und nicht um Propaganda allgemein, und dass Nazi-Propaganda in Deutschland automatisch schlimmer bewertet wird als alle übrige Propaganda. Wenn man nicht bei der bloßen Identifikation Nazi gleich das Böse stehen bleiben will, oder sich fragt, wie die im menschlichen Potential liegende Grausamkeit politisch so wirkmächtig werden konnte, ist eine genaue historische Kontextualisierung schon sinnvoll. Und dann wäre Nazi-Expertise eine mögliche Legitimation für die Begleitung. Um Hass und Verachtung erkennen zu können, sind wohl tatsächlich weder Geschichtsdaten noch besondere Klugheit nötig.

      Automatismus ist das, was mich stört, weil ich befürchte, er könnte Transferleistungen verhindern. So als würde man, den Blick aufs Hakenkreuz fixiert, übersehen, dass die Grenze zum Menschenverachtenden schon woanders verläuft. (Ein Pro für den Filmwissenschaftler, der den Bogen weiter gespannt hat.) Wie Du sagst, es gibt ganz ohne Auflagen viel Propaganda auf dem Markt. Und politische Entwicklungen, die nahelegen, dass Transferleistung nicht stattfindet oder nicht wirksam genug umgesetzt wird. Das Schlagwort „niemals wieder“ steht für mich traurig neben dem Genozid in Ruanda, anderen Massakern und – auf einer anderen Ebene, aber im Entwicklungspotential für mich immer bedrohlich – neben Diskriminierungen, die ich in Deutschland wahrnehme. Apropos Emotionen: Ich kann mich nicht beruhigen, die Zeiten seien für immer vorbei. Ich wünsche mir manchmal, ich könnte es. Vielleicht ist mein Gedanke, viele können selbstreflexiv und verantwortungsvoll handeln, auch doch so etwas wie „es ist vorbei“, keine Ahnung. Mein erster Kommentar sollte einfach ein provokativer und hoffentlich konstruktiver Ausdruck des Zweifels sein.

      Die Wertung des Vorbehalts und die damit verbundenen Auflagen finde ich insofern gut, weil sie institutionell abgesicherte Muster schafft, die als Maßstab dafür gelten können, was gesellschaftlich völlig inakzeptabel ist. Hilfreich, weil real weder alle Menschen Propaganda und Ausgrenzung für inakzeptabel halten, noch Propaganda erkennen. Ich hinterfrage die Position, aus der heraus sich Menschen dieser Wertung anschließen (Stichwort Automatismus), und aus der weiter für den Giftschrank plädiert wird. Denn das liegt nahe zur Bevormundung. Und die kann für mich nur eine Art Notlösung sei, die einer guten Legitimation bedarf. Wenn es keine anderen Wege gibt, die eine Notlösung überflüssig machen.

  2. Patricia Donassy-Derek 25. April 2012 um 15:29 Uhr · Antworten

    Dieser Text greift z. T. meinen mündlichen Kommentar während der Nachbesprechung des Films Jud Süß auf. Achtung, enthält Ironie.

    Ein „Vorbehaltsfilm, der aus leicht verständlichen Gründen nur innerhalb eines Seminars, also mit Begleitung durch einen Referenten gezeigt werden darf“.
    Was diese leicht verständlichen Gründe wohl sein könnten, darauf war ich bei meinem Besuch der Vorstellung gespannt. Ich hatte noch keine feste Meinung dazu, ob der Film sinnvollerweise im „Giftschrank“ verbleiben solle, oder ob er nicht doch einfach mal im Abendprogramm einer der kulturorientierteren TV-Sender laufen könne (die ja teilweise auch eine Einbettung in Gesprächsrunden bzw. den historischen Kontext per Doku bieten). Meine Stimmung war zu Beginn eine leichte Empörung darüber, den Film nur in Anwesenheit eines professionellen Interpreten ansehen zu dürfen. Es erschien mir, ich sei mitsamt dem zu erwartenden Publikum unter Generalverdacht der Kritikunfähigkeit und Verführbarkeit gestellt. Und das Publikum ist wohlgemerkt eines, das sich freiwillig für die einzige öffentliche Abendvorstellung zum Kino begibt; ein gewisses Interesse für das Thema kann immerhin angenommen werden. Womöglich leben nicht nur die Nazis noch bis 2018 hinterm Mond (siehe Iron Sky) sondern wir Deutschen allgemein.

    Im Kino angekommen musste ich mich mit einer weiteren Auflage arrangieren. Noch ein symbolischer Hinweis auf die Brisanz des Films: Dies ist kein Popcorn-Kino, also zum Anlass kein Popcorn-Verkauf. Rascheln stört die Rezeption. Die körperliche Disziplinierung hilft der geistigen, das ist Allgemeinwissen. (Erfrischend, dass der im Übrigen sehr interessant und bereichernd vortragende Interpret dazu aufforderte, sich von dem Film auch unterhalten zu lassen – um die Wirkung, über die man später, sich distanzierend, urteilen könne, nicht von vornherein auszubremsen.) Kein Allgemeinwissen, so stellte sich bei der nachfolgenden Diskussion heraus, schien im Gegensatz dazu der Stand der neueren Holocaust-Forschung zu sein (z. B. Intentionalisten vs. Funktionalisten), ebenso wenig das Jahr, in dem die Wannsee-Konferenz stattfand (sollte solides historisches Hintergrundwissen nicht zu den Merkmalen eines professionellen Interpreten des Nazi-Propaganda-Films gehören?), Grundzüge von Rezeptionstheorien oder statistischen Auswertungen. Dennoch sah sich ein Großteil des Publikums in der Lage, für die nicht anwesende Allgemeinheit mitzuentscheiden, dass der Film, aus offenbar leicht verständlichen Gründen, besser nicht frei verfügbar, ohne Begleitung gezeigt werden sollte. Das Verführungspotential ist groß, die Neonazis mächtig (es wurde von einem Besucher die im Vorfeld der Aufführung aufgetretene Sorge geäußert, die Vorstellung hätte entsprechend gestört werden können, es kamen Fragen nach Vorfällen und ablehnenden Reaktionen bei Vorführungen).

    Dabei sehe ich zwei Probleme. Erstens kann die letzte Argumentation als Relativierung von Verantwortung verstanden werden, in doppelter Hinsicht. Wenn die Macht der Nazipropaganda und die Macht der (Neo)Nazis jetzt noch so groß sind, dass nicht jeder damit in angemessener Form umgehen/sich dagegen wehren kann, wie schwierig muss es dann erst für “die Deutschen“ zu Lebzeiten „der Nazis“ (die Schnittmenge ist bei dieser Formulierung unsichtbar) gewesen sein. Relativiert wird auch die individuelle Verantwortung jedes Bürgers/ jeder Bürgerin, sich eigenständig mit Propaganda in Medien auseinanderzusetzen und die eigene Position zu reflektieren. Besser Gift in den Giftschrank, dann können die Dummen nichts anstellen und keiner muss selbst denken, weil gut sichtbar etikettiert ist, was gefährliches Gift ist.

    Das führt zum zweiten Problem: Wenn noch immer so viele Menschen in Deutschland nicht über ausreichend Medienkompetenz verfügen, um selbständig Propaganda erkennen zu können, wieso dürfen dann einfach alle ab 18 Jahren wählen? Zumal Wahlkampf und politische Aufklärung sehr stark über audiovisuelle Medien laufen. Neben der Literaturanalyse und -Kritik sollte wohl in der Schulbildung die Analysekompetenz für Filme, interaktive Webinhalte, Comics und Computerspiele gleichgewichtet gefördert werden. Sind die Deutschen nun kompetent genug, politische Propaganda von sachlichen Informationen zu unterscheiden, oder nicht? Ist Medienkompetenz ein Kriterium für Wahlmündigkeit? (Mein Einwurf, die als schlecht eingeschätzte Reflexionsfähigkeit vieler deutscher Bürger und Bürgerinnen hinsichtlich Propaganda könne man als antidemokratisches Argument auslegen – weil diejenigen, die keine Nazi-Propaganda erkennen können, würden evtl. wieder Nazis wählen, sollten also besser von demokratischen Wahlen ausgeschlossen werden, oder aber die Demokratie müsse in Anbetracht unfähiger Bürger/Bürgerinnen generell überdacht werden – fand keine große Zustimmung.) Oder kann man etwa davon ausgehen, dass es heutzutage hierzulande gar keine Propaganda mehr gibt, Verhetzung ist schließlich verboten? Wohl nicht, darüber war man sich auch im Publikum weitgehend einig. Und man kann auch nicht davon ausgehen, dass Inhalte im Internet so dicht kontrollierbar sind, dass auch sicher im Giftschrank steht, was in den Giftschrank gehört (ein Besucher gab an, Jud Süß sein ohnehin auf einer bekannten Videoplattform zu sehen).

    Unter Vorbehalt gestellt wurde der Film von den Alliierten, die nach dem zweiten Weltkrieg und mit zögerlicher Aufdeckung des Ausmaßes des Holocausts mit einer deutschen Gesellschaft rechnen mussten, die sich ideologisch noch lange nicht tiefgreifend geändert hatte. Solche Prozesse dauern, Umdenken und Umstrukturieren von Behörden, Institutionen, Funktionsträgern, Alltagshandlungen etc. und nicht zuletzt die innere Auseinandersetzung mit den verübten Verbrechen. Sinnvoll, die bisherige Propaganda zu unterbinden, einen Giftschrank zu eröffnen, damit überhaupt andere Sichtweisen aufkommen können. Doch wann ist dieser Prozess des Umdenkens soweit fortgeschritten, dass wir wieder gefahrlos selber denken können? Inzwischen haben viele die Geschichte des WW II und des Holocaust im Schulunterricht als historische Basisausbildung durchgenommen, Filme und Dokus über die Themen sind zu jeder Jahreszeit im Fernsehen, gute Bücher (z.B. von Raul Hilberg, Saul Friedländer, Christopher Browning und vielen mehr) sind leicht zu leihen oder zu kaufen. Ein veränderter Rezeptionskontext also schon allein beim Blick auf das Bildungsangebot.

    Die Sichtung des Films brachte Erkenntnisgewinn über Strukturen von Propaganda, visuelle und filmtechnische Traditionen in der Darstellung des Bösen etc. Angesprochen wurde z. B. die Propaganda für Folter einer US-Serie und die teilweise sehr negative Darstellung von Muslimen in Filmen und Serien seit 2001. In den Genuss solchen Erkenntnisgewinns sollten doch möglichst viele kommen. Ob eine Distanzierung von Propaganda und diese und ähnliche Transferleistungen auch ohne Begleitung möglich sind, hängt früher wie jetzt von freiem Zugang zu Informationen, Pressefreiheit, dem aktuellen politischen Kontext und der Medienkompetenz sowie dem Eigenverantwortungsgefühl des Publikums ab. Ist die Vorstellung eines völlig verführungsresistenten, hochgradig selbstreflexiven Landes vielleicht eine Utopie und wir haben den real machbaren Stand bereits mehr oder weniger erreicht? Im internationalen Vergleich, würde ich sagen, schon. Dem deutschen Befinden nach, wenn die Diskussion nach dem Film als Querschnitt dienen sollte, jedenfalls nicht (das wäre natürlich wissenschaftlich-statistisch nicht korrekt). Vor der Vorstellung und während der Diskussion hinterher war ich noch unentschlossen, ob ich für Freigabe oder Giftschrank stimmen würde. Nach Anhören der gehäuften Selbstentmündigungsreden plädiere ich für den Giftschrank. Bevor sich noch aus Versehen jemand selbst vergiftet.

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